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Nach den Wahlen: Was jetzt auf die Schweiz zukommt

Keystone / Samuel Golay

Das Land hat gewählt: grün, weiblich, progressiver. Was bedeutet dieses Resultat? Unsere Analyse.

Die hohen Sitzgewinne der Grünen und Grünliberalen zeigen, dass viele Bürgerinnen und Bürger des Landes eine Politik wollen, die über den Schweizer Gartenzaun hinausdenkt. “Jetzt kommt plötzlich eine neue Kraft ins Spiel, die einen grossen Wählerauftrag punkto Klima hat”, sagt Grüne-Präsidentin Regula Rytz im Interview mit watson.chExterner Link. Die Schweiz müsse sich international öffnen und eine stärkere Rolle spielen.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Was haben die deutlichen Gewinne der Grünen und Grünliberalen sowie die Verluste der SP und vor allem der wählerstärksten SVP zu bedeuten?

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Es ist so: Auch der allergrösste Beitrag der Schweiz zur Lösung der Klimakrise bleibt ein kleiner. Die Bedrohung ist von globalem Ausmass, doch gerade darum steht die Schweiz in der Pflicht. Das ist die Aussage von diesem Wahltag. Tatsächlich kann dieses kleine Land in Bezug auf das Klima überdimensional viel leisten. Es verfügt über Wissen und gute Technologien – aber vor allem über genügend Mittel, um neue Wege zu beschreiten. In anderen Ländern sind Klimamassnahmen Luxus, für die Schweiz werden sie nun zum Auftrag. Unser Land kann so für andere Staaten Vorbild, Vorreiter und Labor werden.

Wenn in der Schweiz von einem politischen Rutsch die Rede ist, dann genügt dafür in der Regel eine Verschiebung von wenigen Prozenten. Diesmal war es aber deutlich mehr: Die grössten Gewinner, Grüne und Grünliberale, konnten zusammen 26 Sitze dazugewinnen: 13 Prozent. Die robuste Schweiz öffnet progressiven Kräften das Bundeshaus. Die grösste Verliererin, die SVP verlor 12 Sitze im Nationalrat, auch das ist enorm – für Schweizer Verhältnisse. Doch klar, es bleibt ein milder Shift im Vergleich zu allen europäischen Nachbarn und vielen weiteren Ländern, wo das ganze Gefüge der etablierten Parteien erodiert und neue Bewegungen Seriensiege feiern.  

Viele zeigten sich von der Parlamentsarbeit in der vergangenen Legislatur enttäuscht, weil die Politikerinnen und Politiker in Bern – mit Blick auf drohende Referenden – die grossen Baustellen im Land nicht oder zu zögerlich anpackten. Ungelöst blieben die steigenden Kosten im Gesundheitswesen, das Verhältnis zu Europa und eine nachhaltige Renovation des Generationenvertrags, der AHV, Pensionskassen und Pensionsalter enthält. Übers Ganze gesehen lässt das Schweizer Volk die langsam mahlenden Mühlen von Bern in unverändertem Tempo weiterlaufen. Es wählte die Politik der kleinen Schritte, einen deutlichen Wechsel zwar, aber keine Revolution.

In der neuen Konstellation lassen sich dennoch Blockaden lösen, insbesondere in der Europapolitik und bei den Gesundheitskosten sind Bewegungen zu erwarten. Auch die Sozialpolitik wurde gestärkt. Grossen Einfluss dürfte diese Wahl auf die finale Diskussion des CO2-haben. Der Wunsch an das neue Parlament lautet: Findet wieder zurück zum guteidgenössischen Kompromiss.

Die ungelösten grossen Fragen der Schweiz liegen auf Eis. Allen voran das Rahmenabkommen mit der EU, an dem sich im Wahlkampf keine Partei die Finger verbrennen wollte. Auf das rasant wärmer werdende Klima und die rasant schwindende Biodiversität wird das neue Parlament fortschrittliche Antworten entwickeln. Doch es ist noch vieles rasenden Umwälzungen unterworfen – und die Schweiz hat noch nicht damit begonnen, nach Antworten zu suchen. 

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Da ist der demografische Wandel, der Überalterung bringt und die Generationen teilt. Der digitale Wandel, der Jobs frisst und die Bevölkerung in Gewinner und Verlierer teilt. Da ist der geografische Wandel, der das Land in starke Zentren, übernutzte Agglomerationen und zunehmend als nutzlos wahrgenommene Ränder teilt. 

Kaum je war die Schweiz von so vielen Sollbruchstellen überzogen. Werden sie ignoriert, drohen echte Brüche.

Rund eine halbe Million Frauen haben am Frauenstreiktag auf den Schweizer Strassen für eine rasche Gleichstellung demonstriert. Noch nie haben so viele Frauen kandidiert. Die beiden Parlamentskammern werden deutlich weiblicher. Im Nationalrat liegt der Frauenanteil nach der Wahl von 84 Frauen bei 42%. Zuvor waren es 32%. Im Ständerat, wo bisher nur sechs von 46 Sitzen von Frauen besetzt sind, dürften nach dem zweiten Wahlgang drei bis vier Männer nun zusätzlich auch Frauen Platz machen müssen. 

Auf kantonaler Ebene hat dies mitunter gar historische Bedeutung: Die Kantone Obwalden und Zug sind das erste Mal überhaupt durch eine Frau in Bern vertreten. In mindestens sieben Kantonen konnte der Frauenanteil gesteigert werden. Flavia KleinerExterner Link, Co-Präsidentin Operation Libero, spricht von einem guten Tag für die Demokratie. Dass die Frauenfrage im Wahlkampf hinter dem Klima ein wichtiges Thema war, sei ein Zeichen dafür, dass “sich das Bewusstsein geschärft hat. Es reicht nicht, dass Männer uns wohlgesinnt sind. Frauen lassen sich nicht von Männern vertreten. Demokratie ist besser, wenn die Geschlechter gleich vertreten sind”, sagt Kleiner mit Blick auf die bisherige Männerdominanz. 

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Es ist in Bern ein Trend, das Brimborium um die Wahl des Bundesrats jedes Mal auf ein Neues zu steigern. Die Wahlgewinnerin Regula Rytz, die Präsidentin der Grünen, fordert für ihre Partei nun einen Sitz im Bundesrat. Auch wenn die neuen Kräfteverhältnisse diese Forderung legitimieren, Dringlichkeit bestehe hier nicht, sagen die bürgerlichen Parteien: In der Schweiz hat es keine Tradition, bestehende Bundesrätinnen und Bundesräte abzuwählen. Und Wahlerfolge müssen sich bestätigen. Aber: Das Parlament ist Mitte-links, die Regierung rechts. Die Diskussion wird bis zur Erneuerungswahl des Bundesrats am 11. Dezember nicht verschwinden.

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