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Warum kantonale Wahlen nicht mehr interessieren

© Keystone / Alessandro Della Valle

In der Schweiz wurde gewählt – und gerade mal 32 Prozent bequemten sich an die Urnen. Das ist für Kantonswahlen extrem wenig, aber nicht untypisch. Denn mobilisiert wird das Volk durch ganz Grosses oder ganz Nahes. Die Kantone fallen exakt dazwischen. Eine Ursachenklärung.

Was? Im Kanton Bern wurden Regierung und Parlament gewählt – bei einer Wahlbeteiligung von weniger als 32 Prozent! Schlimmer noch, diese Zahl interessiert fast niemanden, denn man hatte nichts anderes erwartet.

Was ist passiert?

Die Hälfte partizipiert von Fall zu Fall

Die Partizipationsforschung weist seit Jahren darauf hin: In der Schweiz ist es nicht mehr die Norm, dass sich das Volk zu allem und jedem eine Meinung bildet. Denn das sei gar nicht möglich – so die Forschung – mit den vielen Wahlen und Abstimmungen auf drei Staatsebenen: Bund, Kantone und Gemeinden. Die politische Beteiligung als Pflicht sei längst gefallen. Heute empfinde man das mehr als Recht, das man nach eigenem Gutdünken nutze.

Entsprechend kennt man vereinfacht gesprochen drei Verhaltenstypen: die regelmässig, die gelegentlich und die nie partizipierenden Bürger:innen. Oder anders gesagt: Von zehn Personen nehmen drei immer an Volksentscheidungen teil, zwei nie und fünf von Fall zu Fall.

Bekannt ist zudem, dass Betroffenheit, Interesse und entwickelte Meinungen Kriterien sind, welche die Beteiligung befördern.

Repolitisierung und Depolitisierung

Ein Überblick zur Stimm- und Wahlbeteiligung über die letzten 30 Jahre zeigt zwei grosse, aber komplett gegenläufige Trends: Der Depolitisierung steht die Repolitisierung gegenüber.

Es sind die grossen, übergeordneten Themen, welche das Elektorat repolitisiert haben. Ganz am Anfang stand das Waldsterben nach 1983, am bisherigen Ende reiht sich die Pandemie ein. Erwähnenswert sind aber auch die Europa-, Migrations- und die Klimafrage. 

Sie alle haben noch etwas gemeinsam: Die traditionellen Parteien verarbeiteten diese Themen zumindest anfänglich unzureichend. In der Schweiz entstanden ungelöste politische Grossbaustellen. Abstimmungen dazu mobilisierten neue Potentiale des Protests. Und Parteien, die sich den neuen Problemen annahmen, konnten darauf hoffen, bei Wahlen zu profitieren. Das stärkte die SVP und die Grünen.

Am geringsten war die nationale Wahlbeteiligung 1995, als genau 42 Prozent bei den Nationalratswahlen wählten. Zehn Jahre danach machten das 49 Prozent. Die mittlere Stimmbeteiligung hingegen steigt gesamtschweizerisch seit den 1980er-Jahren ungebrochen an. Damals lag sie im Mittel bei gut 40 Prozent, in den 2010er Jahren waren es durchschnittlich 49 Prozent.

In Ausnahmesituationen wie der Pandemiezeit wurde mit 57 Prozent Stimmbeteiligung der Nachkriegsrekord erzielt. So präsentiert sich das Bild also auf nationaler Ebene.

Und auf Kantonsebene? Bis vor kurzem mangelte es hier an Vergleichszahlen. Sean Müller, Assistenzprofessor für schweizerische und vergleichende Föderalismusfragen an der Universität Lausanne, hat dieses Defizit nun behoben.

Université de Lausanne

Oben: Die mittlere Wahlbeteiligung (blaue Linie) an kantonalen Entscheidungen nimmt laufend ab.

Unten: Die Stimmbeteiligung im Schnitt nimmt laufend zu. Beides liegt jetzt bei gut 40 Prozent.

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Université de Lausanne

Müllers Daten belegen: Auch die mittlere kantonale Stimmbeteiligung folgt dem Trend der Repolitisierung. Denn die Teilnahme stieg wie beim Bund seit den 1980er-Jahren an. Damals registrierte man im Mittel 35 Prozent Teilnehmende, heute sind es gut 42 Prozent.

Davon findet sich bei kantonalen Wahlen allerdings nichts. Nahmen vor 40 Jahren im Schnitt noch 55 Prozent teil, sind es heute nur noch gut 40 Prozent. Der Trend ist ungebrochen sinkend. Damit ist das eigentliche Problem eingekreist: Den Bürgerinnen und Bürgern ist es zunehmend gleichgültig, wer die Kantone regiert und gestaltet.

Pendeln zwischen den Kantonen

Umfragen stellten in den vergangenen Jahren regelmässig fest, dass bei den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern die Identifikation mit dem eigenen Kanton sinkt. Das hat mit der Mobilität zu tun, namentlich durch die Arbeitsmärkte in den grossen Zentren. Die einen leben in einer Umgebung, die sie weniger kennen. Bei anderen fallen Lebens- und Arbeitsmittelpunkte auseinander.

Namentlich im breiten schweizerischen Mittelland ist das entstanden, was man «Glokalisierung» nennt: Man orientiert sich an den globalen oder nationalen Streitfragen – und allenfalls interessiert man sich auch für das Lokale, also das, was im kleinsten Raum geschieht, sprich im Quartier oder in der Gemeinde.

«An Wahlen nehmen nur die Stammkund:innen der Politik teil.»

Alles dazwischen verliert aber an Bedeutung. Das gilt namentlich für die kantonale Politik. Dass sie etwas autonom bewegen kann, glauben viele nicht mehr. Deshalb nehmen an Wahlen nur die Stammkund:innen der Politik teil.

Homogene Gesellschaft: hohe Beteiligung

Bemerkenswert dabei ist: Davon ausgenommen sind periphere Gebiete mit eigener Sprache oder alpiner Umgebung. Dort bleiben Wahlen eine Manifestation der kantonalen Identität, wie die hohen Teilnahmeraten bei Wahlen im Tessin oder im Wallis immer noch zeigen. Dem Trend im Mittelland hat sich dafür auch der Innerschweizer Kanton Luzern mit seiner sinkenden Beteiligung angeschlossen, eine Entwicklung, die von der Agglomeration Luzern ausgeht.

Die Politikwissenschaft fasst das so zusammen: Hohe Beteiligungsraten bei Wahlen sind zu erwarten, wo es geschlossene Gemeinschaften gibt, die möglichst homogen zusammengesetzt sind. Wo es keine solchen mehr gibt, sorgt der Wettbewerb unter Parteien oder Medien für eine hohe Beteiligung.

Dem steht aber die Konkordanz-Demokratie im Wege. Kantonale Wahlen sind häufig keine grossen politischen Weichenstellungen, eher demokratische Rituale, oft reine Bestätigungswahlen. Die Bisherigen sind für die Wiederwahl in der Regel gesetzt, bei den freien Sitzen sind die bisherigen Parteien bevorteilt. Das reduziert das öffentliche Interesse und auch das der BürgerInnen.

Mobilisierungskraft der Medien

«Wo die politische Berichterstattung schwindet, leidet auch die Beteiligung, vor allem an Wahlen.»

Ein weiterer Faktor sind die Medien. Gerade die Massenmedien sind der wichtigste Multiplikator von Wahlkämpfen. Sie profilieren die Kandidat:innen und die Parteien mehr als jede Werbung. Doch dem sind angesichts der Krise der lokalen Medien heute Grenzen gesetzt. Studien aus der Politik- und Medienwissenschaft der letzten Jahre zeigen, dass angesichts der knapper gewordenen Finanzen Recherchen, Beilagen zu Wahlen und der kritische Journalismus seltener geworden sind. Und wo die politische Berichterstattung schwindet, leidet auch die Beteiligung, vor allem an Wahlen.

Super Sunday für die Schweiz?

Eine Lösung könnten koordinierte kantonale Wahlen sein, die über die Schweiz verteilt gleichzeitig an einem Super-Sunday stattfänden. Regionale Medien könnten so alle vier oder fünf Jahre einen konzentrierten Effort leisten, und Parteien könnten regional werben. Rechnung getragen würde damit auch dem Umstand, dass die Meinungsbildung überkantonal erfolgt. was jenen Menschen entgegenkäme, die im Kanton A arbeiten, aber im Kanton B wohnen. 

Berner Stimmenzähler tragen die versiegelten Urnen zur Auszählung. © Keystone / Alessandro Della Valle

Zurück aber zu unserer Ausgangsfrage: Was ist im Kanton Bern passiert? Dieser Kanton Bern ist gewiss nicht demokratiemüde. Er ist ein Extremfall, aber kein Einzelfall.

Die Verteilung der Sitze im Regierungsrat war fast stabil. Alles bleibt beim Alten, war das Motto der Wahlen. Das war ein erster Grund. Zweitens sind die Berner Regionalmedien inzwischen weitgehend in Zürich zentralisiert. Ihr Engagement bei den kantonalen Wahlen ist geringer geworden. Und drittens liegt der bevölkerungsreiche Teil des Kantons Bern im Mittelland. Dort herrscht viel Mobilität und verminderte örtlicher Verbundenheit.

31 bis 32 Prozent Wahlbeteiligung erscheinen da nicht wirklich überraschend.

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