Nach der Pandemie – was hat Europa von Covid gelernt?
Fünf Jahre nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Covid-19-Pandemie als globale Pandemie ausgerufen hat, zieht Europa Bilanz darüber, was sich verändert hat und was nicht. Dieser Bericht und die interaktive Karte von "A European Perspective"Externer Link zeigen, wie die öffentlich-rechtlichen Medien auf dem gesamten Kontinent die Auswirkungen der Pandemie reflektieren - und fragen: Könnte Europa ebenso anfällig für neue Bedrohungen sein?
Vor fünf Jahren stand die Welt still, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Covid-19 zu einer globalen Pandemie erklärte. Es war der nötige Weckruf, um rund um den Globus die Aufmerksamkeit auf den sich verschlimmernden Ausbruch zu lenken, der seit Ende 2019 gemeldet worden war.
In Europa hörten die Bürgerinnen und Bürger zum ersten Mal von einem Virus aus China und sahen im Fernsehen Bilder von Militärfahrzeugen, die durch die Strassen der italienischen Stadt Bergamo rollten, die zum Ground Zero in Europa geworden war.
Die Armee wurde zur Unterstützung bei der Bewältigung der enormen Zahl von Opfern in Bergamo und der gleichnamigen Provinz gerufen, wo innerhalb eines Monats 6000 Menschen starben – ein gewaltiger Sprung von den normalerweise verzeichneten 2000 Toten.
Fünf Jahre später ist die Trauer in der Region immer noch da, berichtet ArteExterner Link.
>> Navigieren Sie durch unsere interaktive Karte, um Berichte der europäischen öffentlich-rechtlichen Medien zu finden, fünf Jahre nach Beginn der Pandemie.
Bald nach diesem Ausbruch wurden ähnliche Zahlen und Statistiken in den meisten europäischen Ländern gemeldet. Einen Monat nach offiziellem Pandemiebeginn waren die Spitäler überfordert und die Regierungen hatten Mühe, auf den Notfall zu reagieren.
In Europa bildeten sich neue Epizentren der Pandemie, darunter Spanien, das bis zum 2. April 2020 100’000 Fälle und 10’000 Todesfälle meldete, mit 950 Toten an einem einzigen Tag.
«Sie hat uns alle im Allgemeinen unvorbereitet erwischt», sagt Pedro Gullon, derzeitiger Generaldirektor der spanischen Gesundheitsbehörde (Salud Pública y Equidad en Salud), gegenüber RTVEExterner Link.
Er räumt ein, dass die Auswirkungen der ersten Welle im Nachhinein hätten gemildert werden können, aber dass «niemand sie hätte aufhalten können».
Harte Massnahmen erteilen harte Lektionen
Pandemiebezogenes Vokabular wie «Antigene», «PCR», «Boten-RNA», «Herdenimmunität» oder «Ausgangssperre» wurde in den Gesprächen der Menschen alltäglich.
Die wiederholten Abriegelungen, Rückverfolgungs- und Isolierungsmassnahmen führten zu einer zunehmenden Ermüdung und lösten Proteste aus.
In Belgien kam es im Jahr 2021 zu gewalttätigen Demonstrationen gegen die Covid-19-Präventionsmassnahmen, wie RTBF berichtetExterner Link.
Laut dem belgischen Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke war die erste Welle von Covid-19, auf die bald weitere Wellen und verschiedene Varianten des Virus folgten, auch eine Chance, Lehren für die Zukunft zu ziehen.
«Die völlige Schliessung des Schulsystems, einschliesslich der Unterstützungsdienste, der psychologisch-medizinischen Zentren usw., war zu viel. Die totale Schliessung eines ganzen Unterstützungssystems (…), wie es die Regierung ganz am Anfang tat, war wahrscheinlich nicht die richtige Strategie, aber wir haben daraus gelernt», sagt Vandenbroucke gegenüber RTBF.
Von allen Massnahmen scheinen die Schulschliessungen eine der nachhaltigsten Auswirkungen gehabt zu haben, und die Folgen werden auch fünf Jahre später noch bewertet.
Beispiel Tschechien. Als die Pandemie den Unterricht ins Internet verlegte, trugen der abrupte Verlust des persönlichen Kontakts und die darauffolgende Isolation zu einem starken Anstieg der psychischen Probleme bei Kindern bei.
Ein beunruhigendes Zeichen dafür war die Zunahme von selbstverletzendem Verhalten, besonders bei Mädchen im Teenageralter, berichtet CTExterner Link.
In dieser Zeit wandten sich viele an die sozialen Medien, um Unterstützung und Anschluss zu finden. Václav Havelka, Direktor der Chmelnice-Grundschule in Prag, stellt fest, dass viele Schüler während der Zeit des Fernunterrichts zunehmend von Online-Plattformen abhängig wurden.
In Portugal erinnern sich die Schüler an die Schliessung als eine schwierige Zeit. Der achtzehnjährige Lucas sagt, dass dies Auswirkungen auf seine Konzentration hatte.
«Ich war von den Online-Kursen etwas abgeschreckt, weil es so einfach war, etwas anderes zu tun, während man in einem Online-Kurs war und niemand die Kontrolle hatte. Und als ich dann im zehnten Jahr ankam, merkte ich, dass mir einige Grundlagen fehlten.»
Teresa, die acht Jahre alt war, als die Pandemie ausbrach, erinnert sich: «Ich glaube, die Pandemie hatte Auswirkungen auf meine Kindheit, denn ich verbrachte meine Kindheit zu Hause», sagt sie gegenüber RTPExterner Link.
Während die lange Isolation bei der jüngeren Generation Narben hinterliess, waren es die älteren Menschen in den Pflegeheimen, die als erste von der Covid-19-Welle betroffen waren.
«Wir haben unsere Palliativstation in eine Covid-19-Einheit umgewandelt», erklärt Steve Doyen, Leiter eines Pflegeheims in der Region Brüssel, gegenüber RTBFExterner Link.
Da manchmal mehrere Todesfälle in einer einzigen Nacht auftraten, «waren die Nachtschwestern ratlos und riefen um Hilfe. Selbst die Bestatter waren völlig überfordert», sagt er.
Christie Morreale, die ehemalige wallonische Gesundheitsministerin, sah jeden Tag, wie die Zahl der Toten auf ihrem Schreibtisch eintraf.
«Der Moment, der wahrscheinlich am meisten schmerzte», sagt sie, «war die Bilanz. Und diese Spalte mit der Zahl der Todesopfer».
Sichtbare Veränderungen, anhaltende Zweifel
Auch wenn einige Auswirkungen der Covid-19-Pandemie – weit verbreitetes Homeoffice, ein grösseres Bewusstsein für psychische Gesundheit, bevölkerungsweite Impfkampagnen oder die anhaltenden Auswirkungen von Long CovidExterner Link – in den Gesellschaften in ganz Europa immer noch spürbar sind, sind sich die Experten uneinig darüber, wie viel Bürger und Institutionen aus der Pandemie gelernt haben.
Inés Calzada, Soziologin an der Universität Complutense Madrid, die sich auf die Erforschung des Wohlfahrtsstaats spezialisiert hat, weist gegenüber RTVE darauf hinExterner Link, dass die Pandemie ein Weckruf für die «Notwendigkeit des Staats war: Die Menschen haben sehr schnell verstanden, wie diese Institution sie schützen kann».
Daniel La Parra, Professor für Gesundheitssoziologie an der Universität Alicante, stellt fest, dass «die Gesundheit so sehr in den Mittelpunkt rückte, dass sie in einer rein kapitalistischen Gesellschaft die Wirtschaftstätigkeit zum Stillstand brachte».
Er fügt hinzu, dass die Krise seither wahrscheinlich zu einem «Anstieg der Nachfrage» nach Gesundheitsdienstleistungen geführt hat.
Die Pandemie machte auch die Schwachstellen der europäischen Gesundheitssysteme deutlich. Doch fünf Jahre später sind einige der Meinung, dass die Regierungen wenig getan haben, um sie zu beheben.
In Lettland stellt der Infektiologe Uga Dumpis fest, dass die Krankenhäuser seit der Krise weitgehend unverändert geblieben sind.
«Westliche Spitäler werden jetzt mit Ein-Bett-Stationen (für die Behandlung von Infektionskrankheiten) gebaut, während wir es immer noch für normal halten, vier bis fünf Patienten auf einer Station zu haben», sagt er gegenüber LSMExterner Link.
«In Anbetracht der Grippe und anderer Infektionen müssen wir verstehen, dass wir auch die Infrastruktur für Einzelzimmer brauchen.»
«Das grösste Risiko nach der Pandemie in diesen fünf Jahren ist das Vergessen», sagt Fernando Almeida, Präsident des portugiesischen Nationalen Gesundheitsinstituts, gegenüber RTPExterner Link.
«Und das dürfen wir nicht vergessen. SARS-CoV-2 (Covid-19) kann bereits als ein weiteres im Umlauf befindliches Atemwegvirus behandelt werden, aber das könnte sich ändern; die Aufmerksamkeit der Welt richtet sich bereits auf [den neuen Stamm von] H5N1, eine neue Bedrohung mit Pandemiepotenzial.»
Ein letzter Vorstoss für ein globales Pandemie-Abkommen
Im Januar 2025 antwortete WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus auf die Frage, ob die Welt nun besser auf die nächste Pandemie vorbereitet sei, mit «Ja und Nein», wie AFP berichtet.
Er räumte zwar ein, dass viele der Schwachstellen und Anfälligkeiten fortbestehen, aber «die Welt hat auch viele der schmerzhaften Lektionen gelernt, die uns die Pandemie gelehrt hat, und hat wichtige Schritte unternommen, um ihre Abwehrkräfte zu stärken».
«Vieles hat sich durch die Grippepandemie 2009 (H1N1), aber auch durch Covid verbessert», sagt Maria Van Kerkhove, Direktorin für Epidemie- und Pandemievorsorge bei der WHO. Aber sie warnt: «Ich denke, die Welt ist nicht bereit für einen weiteren massiven Ausbruch einer Infektionskrankheit oder einer Pandemie.»
Im Dezember 2021 begannen die WHO-Mitgliedstaaten mit der Ausarbeitung eines globalen Abkommens zur Prävention und besseren Reaktion auf Pandemien, um die durch Covid-19 aufgedeckten gravierenden Mängel zu beheben.
Am 12. April 2025 ist nach Angaben der Ko-Verhandlungsleiterin eine Grundsatzeinigung erzielt worden. «Wir haben eine Grundsatzeinigung», sagte Anne-Claire Amprou der Nachrichtenagentur AFP in Genf.
Die Unterhändler bei der WHO wollen sich in den Tagen darauf erneut treffen und den endgültigen Text verabschieden. Zudem müssen die Regierungen der WHO-Mitgliedstaaten zustimmen.
Strittige Fragen betrafen den Austausch von Informationen über Krankheitserreger zwischen den Ländern und die Gewährleistung eines gerechten Zugangs zu Impfstoffen und medizinischen Ressourcen.
Die Verhandlungen standen unter dem Druck, rechtzeitig vor der nächsten WHO-Jahresversammlung im Mai einen Konsens zu erzielen.
Eine Einigung soll der Welt helfen, mit der nächsten Pandemie umzugehen und nicht zu riskieren, dieselben tödlichen Fehler zu wiederholen.
*A European Perspective ist eine redaktionelle Zusammenarbeit zwischen europäischen öffentlich-rechtlichen Medien. Weitere Informationen finden Sie hier.Externer Link
Inhalte bereitgestellt von AFP (Frankreich), BR (Deutschland), CT (Tschechien), Franceinfo (Frankreich), ERR (Estland), ERT (Griechenland), LSM (Lettland), LRT (Litauen), RTBF (Belgien), RTE (Irland), RTP (Portugal), RTS (Schweiz), RUV (Island), Suspilne (Ukraine) und Swedish Radio (Schweden).
Text: Sara Badilini
Karte: Luis Garcia Fuster, Martin Sterba
Zusätzliche Recherchen: Michelle Hough
Lektorat: Kate de Pury (EBU)
Übersetzung und Ausgabe für den Bayerischen Rundfunk: Marlene Thiele
Projektleitung: Alexiane Lerouge (EBU)
Illustration: Ann-Sophie De Steur
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