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Nach der AHV-Abstimmung: Kommt es in der Schweiz zum Generationenkonflikt wie in Japan?

Drei Leute blicken in die Kamera in Japan.
Japans Bevölkerung ist die älteste der Welt. Szene aus Tokio 2022. KEYSTONE/Copyright 2022 The Associated Press. All rights reserved

Japan hat die älteste Bevölkerung der Welt. Die Anliegen der älteren Bevölkerungsteile dominieren die Politik. In der Schweiz befürchten nach dem Ja zu einer 13.-AHV-Rente manche Ähnliches. Wie kritisch ist die Lage? Ein japanischer Professor teilt die Erfahrungen aus Japan – und hat Ideen für Auswege für die Schweiz und andere Demokratien.

Auf X/Twitter ist am vergangenen Abstimmungssonntag ein Grabstein mit Aufschrift “Generationenvertrag 1948-2024” oft geteilt worden. “Generationen-Clash” titelte die Gratiszeitung “20 Minuten” am Tag nach dem Ja zu einer 13. AHV-Rente. Das rechtsliberale Magazin “Schweizer Monat” kommentierte: “Der vielgerühmte Generationenvertrag verkommt zum Knebelvertrag.”

Bei den Unter-40-Jährigen waren etwa drei von fünf gegen eine 13. AHV-Rente. Erst in der Gruppe ab den 50- bis 64-Jährigen überzeugte die Rentenerhöhung eine klare Mehrheit. Bei den Pensionierten war diese dann erdrückend: 78% der über 65-Jährigen, die abstimmten, waren gemäss der Nachbefragung von TamediaExterner Link für die 13. AHV-Rente.

Das Thema der Generationengerechtigkeit prägte die letzten Wochen in der Schweiz. Werden diese Konfliktlinien nach der Abstimmung gekittet – oder entsteht tatsächlich ein Generationengraben?

Die Schweiz nach der Abstimmung über 13. AHV-Rente am Scheideweg

Angesichts der Abstimmungsergebnisse sagt Manabu Shimasawa: “Ich befürchte, dass die Schweiz kurz davor steht, sich wie Japan in eine Silberdemokratie zu verwandeln.” Shimasawa ist Wirtschaftsprofessor an der Kanto Gakuin Universität.

Manabu Shimasawa blickt in die Kamera
Manabu Shimasawa ist Wirtschaftsprofessor an der Kanto Gakuin Universität. zur Verfügung gestellt

Silberdemokratie? So nennt man eine Demokratie, in der die älteren Generationen so dominant geworden sind, dass sie die Politik bestimmen.

In Japan ist das Realität: Um die 30% der Japaner:innen sind über 65 Jahre alt, Tendenz steigend. Bereits stellen die Über-50-Jährigen 57% der Wahlberechtigten. Die Älteren haben, wie auch in der Schweiz, eine höhere Wahlbeteiligung als die Jüngeren. Die Wahlkreise sorgen dafür, dass die Stimmen der eher ländlichen, eher älteren Bevölkerung noch dominanter sind.

Das schlägt sich auch in der Schwierigkeit einer Rentenreform nieder. Die gesetzliche Rente ist in Japan eigentlich seit 2004 an eine “Macro-Economic Slide Formula” gebunden. Diese bindet die Rentenhöhe an die demografische Entwicklung. Aber laut Shimasawa wurde diese oft nicht umgesetzt. “Das liegt daran, dass sowohl die Regierungs- als auch die Oppositionspartei befürchteten, dass sie die politische Unterstützung der älteren Menschen verlieren.”

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Der Wirtschaftsprofessor hält die Entwicklung in Japan für besorgniserregend: “Die aktuelle Situation ist, dass Reformen, die für die junge Generation von Vorteil wären, nicht umgesetzt werden. In der Folge hat die wirtschaftliche Vitalität abgenommen. Letztes Jahr wurde Japans BIP von Deutschland überholt. Nun liegt das Land noch auf dem vierten Platz. Gleichzeitig kämpfen junge Menschen mit der hohen Belastung durch die Sozialversicherung. Und die Zahl der Eheschliessungen und Geburten ist auf einem Rekordtief.”

Die Folgen der Altersdominanz in Japan

Die Japanolog:innen Gabriele Vogt und Yosuke BuchmeierExterner Link sind der Meinung, dass Japan anderen alternden Demokratien einen Blick in die Zukunft ermöglicht. Sie ziehen in ihrem politikwissenschaftlichen Artikel eine Studie herbei, die ausgewertet hat, dass jüngere Bürgermeister:innen in Japan eher Ausgaben zum Wohl von Kindern aussprechen – und ältere eher Mittel an Ältere verteilen.

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Buchmeier und Vogt halten es für möglich, dass die Altersstruktur auch mit Japans massiver Verschuldung in Verbindung steht. Die Schulden belaufen sich auf das Zweieinhalbfache des Bruttoinlandsprodukts. Aber auch die in Industrienationen hohe Kinderarmut erhalte wegen der Dominanz der älteren Bevölkerung zu wenig Beachtung.

Gleichzeitig würden Umweltschutz- und Klimathemen in Wahlkämpfen womöglich darum kaum eine Rolle spielen, weil die Stimmen der Jungen wenig Einfluss haben.

Das Durchschnittsalter von Japans Gewählten im Unterhaus lag bei den Wahlen 2021 bei 55,5 Jahren. Gerade mal eine Person unter 30 schaffte es, einen der 465 Sitze zu ergattern. Neben Hürden in der politischen Kultur sind auch im politischen System Schranken eingebaut: So muss man in Japan für eine Kandidatur im Unterhaus mindestens 25 Jahre alt sein und einen Depotbetrag von um die 18’000 Franken aufbringen.

Am Gion Festival in Kyoto sieht man sechs Männer von hinten.
Die Anliegen der ältesten Bevölkerungsteile bestimmen die politische Agenda in Japan. Szene vom Gion Festival in Kyoto 2018. KEYSTONE

Für Japan kommen Buchmeier und Vogt zu drei klaren Befunden: Die älter werdende Bevölkerung hat Folgen für die Stimmbeteiligung, für die Demografie der Gewählten – und die politischen Entscheide. “Aufgrund der ‘Politik der Alten für die Alten’ bleiben Themen, die die jüngeren Generationen überproportional betreffen, unberücksichtigt”, schreiben sie.

Schweizer Parlament immer jünger

In der Schweiz gibt es in vielen Bereichen keine Entwicklung in diese Richtung. Die Bevölkerung altert. Gleichzeitig wird das Schweizer Parlament immer jünger. Der Nationalrat ist so jung wie zuletzt im 19. Jahrhundert. Im Durchschnitt war ein Parlamentsmitglied im Dezember 49,4 Jahre alt. Allerdings sind die Unter-30-Jährigen trotzdem unterrepräsentiert – ebenso aber die Über-70-Jährigen.

Was die Beteiligung angeht, ist die jüngere Generation einfach selektiver: Nur ein kleiner Anteil der 18- bis 25-Jährigen stimmt gar nie ab. Die meisten tun es einfach nicht bei jeder Abstimmung, wie eine Analyse von 2018Externer Link ergab.

Wenn es um die politischen Inhalte geht, scheint es ohnehin schwierig, diese einer Altersgruppe zuzuordnen. In der Schweiz ist das Klimathema nicht nur wegen jugendlichen Aktivist:innen, sondern auch wegen Gruppen wie den “Klimasenior:innen” auf der Agenda.

40% der Jungen für die 13. AHV

Immerhin um die 40% der ganz Jungen stimmten laut der Tamedia-Nachbefragung für die Einführung der 13. AHV-Rente. Junge Stimmen waren auf der Seite der Befürworter:innen sehr präsent. So sagte beispielsweise Magdalena Erni, die 20-jährige Co-Präsidentin der Jungen Grünen, in der SRF-Sendung “Arena”: “Es ist keine Frage der Generationen, sondern eine Frage der Gerechtigkeit.”

Magdalena Erni und Matthias Müller im Gespräch
Magdalena Erni von den Jungen Grünen war im Abstimmungskampf über die 13. AHV-Rente eine sehr präsente Stimme der Befürworter:innen der Jungen. Hier ist sie im Gespräch mit Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen, der sich mit einer Initiative vergeblich für eine Erhöhung des Rentenalters eingesetzt hat. KEYSTONE/© KEYSTONE / PETER KLAUNZER

Dass viele Menschen mit tiefem Einkommen diese Ansicht teilen, hat nun auch die Nachwahlbefragung von Tamedia gezeigt: Von den Menschen mit Einkommen unter 4000 FrankenExterner Link stimmten fast 70% für die 13. AHV-Rente.

Profitieren die Alten mit der 13. AHV-Rente von den Jungen?

Vor der Abstimmung argumentierten auch Ältere gegen die Eigeninteressen ihrer Generation: “Junge, geht abstimmen!” Selten löst ein kleines Zeitungsinserat in der Schweiz einen solchen Wirbel aus, wie jenes, mit dem ein älteres Zürcher Paar junge Menschen dazu aufforderte gegen die 13. AHV-Rente zu stimmen.

“Wir Alten jedoch profitieren sofort, obwohl die meisten von uns es nicht nötig haben”, erklärten sie ihre Sicht. Über die 63-Jährige und ihren 71-Jährigen Partner ist ein grosser Artikel erschienen und einiges an Häme vergossen worden.

Unter anderem, weil sie die AltersarmutExterner Link als gesellschaftliches Problem zu wenig ernst nähmen: 15,4% der Über-65-Jährigen galten in der Schweiz 2021 als arm. Der Anteil ist mehr als doppelt so hoch wie die Armutsquote unter den Menschen im arbeitsfähigen Alter in der Schweiz.

Altersarmut auch in Japan ein Problem

Für jene Pensionierten mit den tiefsten Einkommen ist die AHV-Rente besonders wichtig. Vielen von ihnen reicht sie nicht zum Leben und sie erhalten deshalb zusätzlich sogenannte Ergänzungsleistungen, die zur Sozialhilfe gehören, vom Staat. 2021 war das laut Bundesamt für Statistik bei 12,5% aller AHV-Bezüger:innen der Fall.

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Trotz der alten Volksvertretung ist die Altersarmut auch in Japan höherExterner Link als im Bevölkerungsschnitt. Das “HandelsblattExterner Link” nannte es unlängst ein Rentensystem, das “eher knausert als klotzt” und stellte die grosse Frage, warum die Sorge vor einem Kollaps dieses Systems nicht grösser ist: Die japanische Bevölkerung altert rasant – und anders als zum Beispiel in der Schweiz gibt es kaum Zuwanderung, welche die Bevölkerung verjüngt und den Anteil der Arbeitenden hoch halten kann.

Das Inserat des älteren Zürcher Pärchens hat aber in einer Frage einen Punkt getroffen: Die heute Arbeitstätigen – also “die Jungen” – finanzieren die AHV-Rente der heutigen Pensionierten. Anders als in der Pensionskasse, der zweiten Säule des Schweizer Rentensystems, wo jede Person im Arbeitsleben für sich selber spart.

Bis eine heute 18-Jährige pensioniert wird, stehen der AHV wohl noch viele Reformen bevor. Wie es um die AHV-Rente steht, wenn sie 65 ist, ist offen.

Argumente gegen ein Umlagesystem

Bei der Finanzierung der 13. AHV-Rente stehen nun verschiedene Ideen im Raum. Unter anderem eine Mehrwertsteuererhöhung, die die gesamte Bevölkerung belastet oder Lohnabgaben, die die Arbeitenden und die Unternehmen belasten. Nimmt die Belastung für die Arbeitenden mit dem wachsenden Senior:innenanteil stetig zu? Und wie kann man dem mit einer Reform entgegentreten, wenn das Medianalter der demokratischen Mehrheit gleichzeitig steigt und steigt?

Wirtschaftsprofessor und Rentenexperte Shimasawa aus Japan würde sich ein System wünschen, in welchem die Rente keine “generationsübergreifende Angelegenheit” ist: Die Leistungsfähigen jeder Generation sparen für ihre eigenen Renten. Damit gewichtet er die Eigenverantwortung.

Aber auch Japan hat bereits, wie die Schweiz, ein solches Standbein im Rentensystem.

3-Säulen-Prinzip
In der Pensionskasse, der 2. Säule, sparen alle Arbeitenden für die eigene Rente. swissinfo.ch

Damit eine Rentenreform nicht nur von Politiker:innen, die um die Stimmen der älteren Generation bangen, abhängt, hofft Shimasawa in Japan auf neue demokratische Instrumente.

So kann er sich zur Ausarbeitung einer nötigen Reform eine deliberative Versammlung vorstellen, in der neben der Politik auch Vertreter:innen aus der Wirtschaft und Arbeitnehmerorganisationen vertreten sind. Oder man würde gleich eine neue Idee von Demokratie durchsetzen: “Ein System, das die Stimmen der Generation, die für die Zukunft des Landes verantwortlich sein wird, in Politik und Abstimmungen stärker widerspiegelt. Etwa, indem Eltern zusätzlich für ihre Kinder stimmen.”

Eine neue Idee von Demokratie

Shimasawas letzter Vorschlag würde gar das Demokratiekonzept “Eine Person, eine Stimme” sprengen: Die Stimmen jener, die noch die längste Lebenszeit vor sich haben, sollen mehr zählen als jene der Älteren. Dass diese radikale Idee Realität wird, ist aber unrealistisch.

Für die Schweiz hat Wirtschaftsprofessor Shimasawa indes noch Hoffnung. Er hofft, dass die Schweiz von Japans Erfahrung lernt. “Glücklicherweise ist die Schweiz noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem es für die Silberdemokratie kein Zurück mehr gibt.” Wenn der Anteil der pensionierten Menschen 30% der Wähler:innen übersteige, werde “die Silberdemokratie zur Bedrohung”.

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Für die Finanzierung der 13.-AHV-Rente kursieren viele Vorschläge. Was sagen Sie: Woher sollen die nötigen vier bis fünf Milliarden Franken jährlich herkommen?

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Editiert von Marc Leutenegger.

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