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Wie die digitale Zivilgesellschaft bei der Ausgestaltung der Schweizer E-ID mitwirkte

E-ID-Test
Keystone / Anthony Anex

Nach der Ablehnung einer elektronischen Identität 2021 bezogen Politik und Behörden Kritiker:innen in die Neugestaltung des Gesetzes ein. Erik Schönenberger von der «Digitalen Gesellschaft» nennt den Prozess «mustergültig» – anders als in anderen Bereichen der Digitalpolitik.

Heute stimmte eine knappe Mehrheit der Schweizer:innen für die Einführung einer elektronischen Identitätskarte (E-ID).

Vor vier Jahren, am 7. März 2021, stimmten fast zwei Drittel der Schweizer:innen gegen eine solche. Bereits am 10. März haben Parlamentarier:innen aus allen politischen Lagern Vorstösse für eine E-ID eingereicht.

Wollte hier die Politik einen direktdemokratischen Entscheid ignorieren?

Nein. Denn Vorstösse nahmen die Hauptkritik an der abgelehnten Abstimmungsvorlage auf: Sie forderten eine staatliche E-ID, die Datensparsamkeit und dezentrale Speicherung ins Zentrum stellt. Die abgelehnte E-ID-Vorlage wäre von privaten Unternehmen ausgegeben worden. Die Vorstösse haben – auch explizit – auf das Abstimmungsergebnis reagiert und Gegenargumente aufgenommen.

Referenden sind mehr als Ja oder Nein

Dies zeigt, dass direktdemokratische Instrumente über die Zeit hinweg mehr leisten, als ein Ja oder Nein. Der Politikwissenschaftler Marc Bühlmann ist Co-Direktor von Année Politique Suisse und Professor an der Universität Bern. Bühlmann erklärt auf Anfrage, «dass die meisten abgelehnten Referenden zu einem Neustart führen, bei dem dann versucht wird, das Resultat der Volksabstimmung einfliessen zu lassen».

Doch die Art, wie ein Nein der Schweizer Stimmberechtigten zu einem Vorhaben der Politik interpretiert wird, sei selbst «ein politischer Entscheid». Als Beispiel nennt er das CO2-Gesetz: Im Sommer 2021 hatte eine knappe Mehrheit die damalige Vorlage abgelehnt. «Aus Sicht der Grünen ist das neue CO2-Gesetz, über das nicht abgestimmt wurde, wohl nicht wirklich «besser» als das erste», so Bühlmann.

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Beim E-ID-Referendum 2021 scheint die Situation etwas anders: Ein Gesetz ist mit Argumenten abgelehnt worden – und diese Argumente haben zu einem neuen Gesetz geführt, das eine Mehrheit hinter sich hat. Das Beispiel der E-ID zeigt auch, wie Behörden angesichts des Drucks, eine Mehrheit der Stimmberechtigten überzeugen zu müssen, Kritik und zivilgesellschaftliche Stimmen einbeziehen und beteiligen.

«Am Sonntag bekämpft – ab Montag zusammengesessen»

Erik Schönenberger blickt nach oben.
Erik Schönenberger ist Geschäftsführer der «Digitalen Gesellschaft». Hier an der Pressekonferenz der Befürworter der E-ID-Vorlage 2025 im August 2025. Keystone / Anthony Anex

Erik Schönenberger war 2021 ein Gegner der privat ausgestellten E-ID. Bei der Abstimmungsvorlage 2025 gehörte der Co-Geschäftsführer der «Digitalen Gesellschaft» zu den Befürwortenden. «Im Vergleich zum jetzigen Abstimmungskampf herrschte eine andere Stimmung», erinnert sich Schönenberger im Gespräch mit Swissinfo. Bereits vor dem Abstimmungstag habe man sich mit dem Gedanken beschäftigt, wie es nach der – erwarteten – Ablehnung weitergehen soll.

«Für die Digitale Gesellschaft war klar, dass wir nicht per se gegen eine E-ID sind», sagt er. Entsprechend wollte man auf die andere Seite zugehen. «Am Sonntag haben wir uns noch bekämpft – ab Montag sind wir zusammengesessen.»

Die Vorstösse überzeugten im Parlament eine Mehrheit. «Bis zum Abschluss des Gesetzes haben diese dann Leitplanken für dessen Ausgestaltung gebildet», sagt Schönenberger, der dabei als Vertreter der Zivilgesellschaft mitwirkte.

Im Herbst 2021 lud die Schweizer Regierung Kritiker:innen und Interessierte zu einer Konsultation ein. «Die Behörden wollten ein Stimmungsbild, was die Schweiz für eine elektronische Identität haben will: Geht es um die Identifikation gegenüber Behörden oder um die Schaffung einer Vertrauensinfrastruktur, die auch Grundlage für digitale Bibliotheksausweise sein kann?»

Konsultation für die E-ID von Zivilgesellschaft und Wissenschaft

An der ersten Konsultation kamen dutzende Stellungnahmen zusammen. Manche Gruppen, die sich beteiligten, wie beispielsweise der PiratenparteiExterner Link haben auch 2025 die E-ID bekämpft. Eine Konferenz und weitere Konsultationen erlaubten eine Auseinandersetzung. «Das Bundesamt für Justiz hat die zivilgesellschaftliche Perspektive eingeholt, die Wissenschaftsvertretung», so Schönenberger

Schliesslich kam der Gesetzesentwurf im Juni 2022 in die Vernehmlassung. Wie bei Schweizer Gesetzen üblich hat die Regierung eine Version des Gesetzes publiziert und die Öffentlichkeit dazu eingeladen, ihre Meinung zu formulieren. Dies tat auch die «Digitale Gesellschaft». «Wir haben uns da noch kritisch geäussert, denn die Stossrichtung war zwar richtig, aber die Frage der Überidentifizierung blieb noch offen.»

So wie sie jetzt vorgesehen ist, soll die Schweizer E-ID bloss die jeweils benötigten Informationen preisgeben. Wer sie etwa nutzt, um online Alkohol zu kaufen, gibt dabei nur seine Volljährigkeit preis – nicht das genaue Alter und keinerlei weitere Informationen, was eine Überidentifizierung wäre.

Beteiligungsprozess mehr als Politmarketing?

Das Gesetz ging ins Parlament, wurde weiter angepasst und konkretisiert. Schönenberger erinnert sich, wie sie zum Teil auch wegen der konkreten technischen Umsetzbarkeit von Politik und Behörden konsultiert wurden. «Zum Beispiel die Frage: Wie können wir das sicher gestalten, dass die E-ID an ein bestimmtes Handy gebunden ist?», gibt Schönenberger Einblick in die Phase von «Anhörungen, Konsultationen und letzten Loops».

Regierungen können öffentliche Konsultationen und Beteiligungsprozesse natürlich auch als Marketinginstrument einsetzen. Die Schweizer Behörden haben nach der Niederlage auch mit den Konsultationen geworben. Etwa mit einer Trickfilm-HelvetiaExterner Link, die einem kritischen Bürger erklärt: «Bevor das Parlament über die neue Vorlage diskutiert, können alle, auch du, ihre Meinung dazu sagen.»

Doch der Prozess hin zum neuen Gesetz ist für Schönenberger weit mehr als Marketing. «Mustergültig» nennt ihn Schönenberger – und hofft bei anderen digitalpolitischen Fragen werde es in Zukunft wieder so laufen.

Die Rolle der Zivilgesellschaft in der Schweiz

Dass der Zivilgesellschaft eine solche Rolle zukommt, ist wohl eine Schweizer Eigenheit. Im kürzlich erschienen Monitor zur weltweiten Demokratie von IDEAExterner Link erreicht die Schweiz den dritten Platz im Bereich «Partizipation» – obwohl die durchschnittliche Wahlbeteiligung tief ist. Der Grund für das gute Ergebnis ist, neben der Bürgerbeteiligung, auch ein sehr hoher Wert im Bereich der Zivilgesellschaft.

Schönenberger glaubt auch, dass im Schweizer politischen System – dank Konkordanz, aber auch dem Milizprinzip – der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle zukommt. Ähnliche Organisationen wie die Digitale Gesellschaft in der EU hätten es bei der Frage der elektronischen Identität schwieriger gehabt mit Bedenken Gehör zu finden.

Doch die Schweiz sei träge. So hat die EU beispielsweise längst einen rechtlichen Rahmen für KI-Regulierung beschlossen. «Der Bundesrat kündigt einen Vorentwurf in anderthalb Jahren an», ärgert er sich. Die Langsamkeit sei «zum Verzweifeln». Bis dahin stehe die Gesellschaft bereits an einem anderen Punkt.

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Nicht überall in der Digitalpolitik wie bei E-ID

Sorgen macht Schönenberger auch der Überwachungsstaat, «den wir in der Schweiz mit Vorratsdatenspeicherung und Kabelaufklärung auch haben». Die anstehenden «Verschärfungen» würden weiter dazu führen, «dass begründete Überwachung in Massenüberwachung kippt». Schönenberger sagt: «Wir als Digitale Gesellschaft wollen das stoppen.»

Er sieht sich darin auch durch das heutige Abstimmungsresultat bestätigt. Zwar hat eine Mehrheit zugestimmt, aber es waren auch 49,6% dagegen. «Viele Leute fühlen sich gegenüber der Digitalisierung machtlos. Darum muss uns das Resultat auch zu denken geben», sagt er. Man könne es so interpretieren, dass es der Regierung nur dann gelingt eine Mehrheit zu überzeugen, wenn sie die kritische Zivilgesellschaft einbezieht.

Entsprechend meint er sein Lob für den «mustergültigen» Beteiligungsprozess in der Ausgestaltung der Schweizer elektronischen Identität auch als Mahnung an die Regierung: «Ohne Beteiligung und Einbezug von Kritik werden künftige digitalpolitische Gesetze die Mehrheit wohl verfehlen.»

Im Bezug auf die Regulierung von KI und der grossen Techplattformen sieht Schönenberger momentan «keine Anzeichen für einen ähnlich grossen Einbezug der Zivilgesellschaft».

Die Umsetzung der E-ID wird nun aber nicht nur von jenen Teilen der Zivilgesellschaft geprägt, die für die E-ID waren: Die Gegner:innen der E-ID haben schon angekündigt, dass sie mit ihren Bedenken die Freiwilligkeit und den Datenschutz stark im Blick haben werden.

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