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Eine Reise in die eigene Vergangenheit

Die Bedeutung der Milchwirtschaft zeigt sich bereits im Wappen von San Jeronimo Norte. Martin Gruber

Vor einigen Wochen reiste eine 60-köpfige Gruppe aus dem Oberwallis nach Argentinien. Das Ziel: die ehemalige Walliserkolonie San Jeronimo Norte. Dort wurden 10 Jahre nach der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft die alte und die neue Heimat ausgiebig gefeiert.

Vor dem Dorfeingang – am Strassenkreuz, dort wo die Strasse rechts nach San Jeronimo Norte abzweigt – da warten sie. Alle sind gekommen: der Gemeindepräsident mit seiner Entourage, der Präsident des Schweizer Clubs mit Sekretärin, die Leute aus dem Dorf. Bald sollen die Gäste aus der Schweiz eintreffen. Soviel weiss man aus dem Radio. Den ganzen Nachmittag wurde über die 6-stündige Fahrt der Gruppe zwischen dem Flughafen in Buenos Aires und Santa Fé informiert.

Plötzlich, nun doch ein wenig unvermittelt, taucht der Doppeldecker auf – hell erleuchtet, laut hupend. Langsam schert das Polizeiauto aus der wartenden Autoreihe aus, setzt sich vor dem Bus in Bewegung. Das Tempo will irgendwie nicht zum Blaulicht passen. Hinter dem Bus fährt die ganze Kolonne Richtung Dorfzentrum, wo Böllerschüsse den Besuch aus dem Wallis willkommen heissen. Die Gäste steigen aus.

Die meisten zögern, sind verunsichert vor soviel Aufmerksamkeit. Was bleibt, ist das Bad in der Menge. Umarmungen – man kennt sich nicht, trägt aber den gleichen Familiennamen. Küsse, freudiges Klatschen, aufgeregtes Durcheinander. Begrüssung auf argentinisch. Das gibt Luft, die Spannung weicht – Lachen vermischt sich mit Tränen der Freude, der Rührung.

Argentische Folklore und Trachtentanz

Ein straffes Programm erwartet die Gäste gleich am ersten Abend. Müde nach einer Nacht im Flugzeug wird begrüsst, gegessen, getanzt. So geht es weiter – jeden Abend – eine Woche lang. Argentinische Folklore mischt sich mit dem, was aus der alten Heimat übrig ist: Jodel, Trachtentanz, Volksmusik. Und am nächsten Tag besucht die Reisegruppe einen anderen Ort in der Umgebung. Santa Fé, Rafaela, Humboldt – alle empfangen die Leute aus der Schweiz mit Pauken und Trompeten.

Walliser Vereine in ganz Argentinien

Die 700-Jahrfeier 1991 war für die Menschen mit Schweizer Wurzeln in Argentinien ein wichtiges Ereignis. Das Land, das die Vorfahren vor über 100 Jahren verlassen hatten, rückte wieder ins Bewusstsein. Der Kanton Wallis lud die Nachfahren von Auswandererfamilien ins Herkunftsland ein. Koordiniert wurde das Projekt von der “Vereinigung Walliser in aller Welt”, deren Vizepräsidentin Lina Hosennen anfangs August 2001 zum ersten Mal einen Gegenbesuch antrat.

Die Eigendynamik, welche in Folge die Einladung in Argentinien auslöste, war beispiellos. Walliser Vereine schossen aus dem Boden. Seit 1993 sind sie unter dem Dach von EVA (Link) organisiert.

Vorher kein Briefkontakt wegen Problemen mit dem Hochdeutsch

In San Jeronimo Norte brachen die meisten Kontakte zur alten Heimat in den 30er-Jahren ab. Damals lebte bereits die zweite oder dritte Generation in der 1859 von fünf Familien aus dem Oberwallis gegründeten Kolonie. Wirtschaftlich erfolgreich, zerrissen die Bande zur alten Heimat. Auch, weil die Jungen das für den Briefkontakt erforderliche Hochdeutsch nicht mehr beherrschten.

Viele vergassen das Land, woher die Vorfahren gekommen waren bis – 1991. All jene, die es sich leisten konnten, folgten der Einladung in der Schweiz. 10 Tage Schokoladenseite: Zermatt, Saas-Fee, das Rütli, die Berner Altstadt. Neue Kontakte entstanden und heute weiss in San Jeronimo Norte jedes Kind, dass sich der Spiess gekehrt hat. Dass es der Schweiz in der Zwischenzeit viel besser geht als Argentinien.

Von Amherd bis Zurschmitten

Heute leben in San Jeronimo Norte 5’500 Leute. Der Grossteil trägt Walliser Namen von A wie Amherd bis Z wie Zurschmitten. Die Holzindustrie und die Milchverarbeitung bilden die wichtigsten Wirtschaftszweige. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation in Argentinien verliessen in letzter Zeit 15 Leute, meist junge Männer, das Dorf in Richtung USA und Europa. Getrieben von der Suche nach einer Existenzgrundlage, wie es vor langer Zeit ihre Vorfahren taten.

Marie-Therese Karlen

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