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Ex-WHO-Topshot stellt Commitment der Mitglieder in Frage

Keiji Fukuda
Keiji Fukuda war der "Grippe-Chef" der WHO während der Grippepandemie 2009. Keystone / Anja Niedringhaus

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist für ihre schleppende Reaktion auf die Pandemie kritisiert worden. Laut einem führenden Gesundheitsexperten liegt ein grosser Teil der Schuld jedoch bei den nationalen Regierungen, weil sie es versäumt haben, bestehende globale Vorschriften umzusetzen.

Im Interview mit SWI swissinfo.ch erklärt Keiji Fukuda, warum die internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) während der Pandemie nicht wirksam waren.

Die IGV sind völkerrechtlich bindende Vorschriften der WHO, welche die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten verhüten und bekämpfen sollen.

Gemäss diesen Vorschriften müssten Länder Vorkommnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit melden. Sie sollten Mittel zur Verfügung stellen, um die Entwicklungen überwachen und darauf reagieren zu können. Auch gibt es Bestimmungen zu Reisen und Transport, wie beispielsweise für den Grenzübertritt erforderliche Gesundheitsdokumente.

Keiji Fukuda ist seit 2017 Direktor der School of Public Health der Universität Hong Kong. Er arbeitete bei der Weltgesundheitsorganisation (2005-2016) als stellvertretender Generaldirektor für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt, Sonderberater des Generaldirektors für pandemische Influenza, Sonderberater für antimikrobielle Resistenz und Direktor des globalen Influenza-Programms. Fukuda befasste sich in seiner Zeit bei der WHO mit den internationalen Gesundheitsvorschriften, unter anderem bei Ausbrüchen der Vogelgrippe und anderen Infektionen sowie der Grippepandemie 2009.

SWI swissinfo.ch: Warum wurden die IGV von den Regierungen nicht respektiert?

Keiji Fukuda: Die Reaktion der Länder auf die aktuelle Pandemie war stark nationalistisch und schlecht koordiniert. Die IGV wurden während Covid-19 aufgrund des aktuellen geopolitischen Umfelds ignoriert. Das zeigt uns, dass ein internationales Abkommen, ein Gesetz oder ein Vertrag zwar eine gewisse Wirkung haben kann, aber seinen Zweck nicht angemessen erfüllen wird, wenn die politische Führung zum Zeitpunkt des Notfalls nicht unterstützend oder kooperativ ist.

Welcher Teil der IGV hat während der Pandemie nicht gut funktioniert und müsste geändert werden?

Die IGV müssen in ihrer Gesamtheit überprüft werden, um zu sehen, ob sie noch zweckmässig sind, und wenn nicht, müssen sie entsprechend geändert werden.

Aber die grundlegendere Frage ist, ob die Länder einen multilateralen, kooperativen Ansatz für wünschenswert halten und ob er in der heutigen Zeit umsetzbar ist. Ich hoffe es, denn es ist der vernünftigste Ansatz, um eine kollektive Bedrohung wie eine Pandemie zu bekämpfen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die globale Geopolitik eine wirklich multilaterale Reaktion unterstützen wird. Einige mögen einen eher fragmentierten Ansatz bevorzugen, um eine grössere nationale Autonomie und weniger globale Kontrolle zu ermöglichen.

Warum glauben Sie das?  

Viele der grundlegenden Entscheidungen in dieser Pandemie, wie beispielsweise Reise- und Grenzbeschränkungen, wurden von Land zu Land mit wenig Koordination getroffen. Eigentlich wären die IGV genau für diese Art Massnahmen gedacht.

Werden die Länder in Zukunft die WHO oder andere Mitgliedsstaaten um Rat bitten, wenn eine Pandemie oder ein Notfall eintritt? Ich hoffe es, aber klar ist das nicht. Es ist jetzt gut möglich, dass die Länder solche Entscheidungen ganz allein und mit wenig Koordination treffen werden. 

Halten Sie es zumindest für notwendig, bestimmte Standards für Lockdowns festzulegen?

Globale Standards für ein solches Thema werden wahrscheinlich nicht allzu hilfreich sein, ausser als allgemeine Orientierungshilfe, was Länder als Optionen in Betracht ziehen können.

Die spezifischen innerstaatlichen Umstände und Situationen der einzelnen Länder machen es kompliziert, einen globalen Standard zu entwickeln und, was noch wichtiger ist, zu implementieren. In einem Notfall werden sich die Länder viel eher um ihre eigene Situation sorgen, als einem globalen Standard zu folgen, wenn sie das Gefühl haben, dass dieser für sie nicht nützlich ist.

Wie sollten die IGV reformiert werden, um auf zukünftige Pandemien vorbereitet zu sein?  

Das tieferliegende Problem sind nicht die IGV. Sondern die Frage, inwieweit die Länder eine multilaterale Reaktion schätzen und sich darauf einigen können, diese umzusetzen. Wenn dies erwünscht ist, dann könnte eine Überarbeitung der IGV wichtig sein. Darüber hinaus könnte auch die Überarbeitung anderer Vereinbarungen wie des Pandemic Influenza Preparedness Framework oder die Schaffung neuer Vereinbarungen sinnvoll sein.

So konnte beispielsweise die Einführung des COVAX-Mechanismus nicht verhindern, dass die reichen Länder bei der Verteilung der Impfstoffe besser wegkamen. Diese haben mehr Geld und einen besseren Zugang zu Produzenten und konnten so einen Grossteil der frühen Impfstoffe hamstern. Ausserdem haben einige Länder den Export von Impfstoffen verboten. Können wir es besser machen? Ich hoffe es, aber dazu müssen sich die Länder wieder darauf besinnen, dass es wichtig ist, zusammenzuarbeiten.

Sind strengere Reisebeschränkungen erforderlich, um Pandemien zu stoppen?   

Reisebeschränkungen können die Ausbreitung von Infektionen in der Frühphase einer Pandemie verlangsamen. Sie sind aber kein optimales Mittel, um eine Gesamtausbreitung einer pandemischen Infektion zu stoppen.

Es ist sinnvoller, Reisebeschränkungen als einen vorübergehenden und taktischen Schritt zu betrachten. Ein Land kann damit Zeit gewinnen, um seine Systeme vorzubereiten und grundlegende Massnahmen zur Infektionsprävention und -kontrolle wie Social Distancing, Masken, Tests und Impfungen zu ergreifen.

Sollte der Nachweis einer Impfung eine Voraussetzung fürs Reisen sein?  

Es ist dringend ratsam und wichtig, dass sich Menschen gegen Covid19 impfen lassen. Die Impfung zu einer zwingenden Voraussetzung für Reisen zu machen, würde aber das Reisen übermässig einschränken und könnte die Ausbreitung der Infektion dennoch nicht auf null reduzieren.

Ein flexiblerer und praktischerer Ansatz wäre es, einen Anreiz für die Impfung zu schaffen. Zum Beispiel, indem die Quarantäneanforderungen für Geimpfte reduziert würden. Das wäre besser, als die Impfung zur absoluten Voraussetzung für Reisen zu machen.

Sibilla Bondolfi

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