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Im Pilzfie­ber

Genaue Zeichnung eines Fliegenpilzes
Der Fliegenpilz, gezeichnet vom Schweizer Künstler und Forscher Hans Walty, 1917. Wikimédia/スイス国立博物館

Pilzsammeln ist in der Schweiz zum Volkssport geworden. Wissenschaft und Industrie versprechen sich viel von Pilzen. Dabei galten «Schwämme» früher als schädlich. Wie hat sich unser Bild der Pilze so grundlegend verändert?

SWI swissinfo.ch publiziert regelmässig Artikel aus dem Blog des NationalmuseumsExterner Link, die historischen Themen gewidmet sind. Die Artikel sind immer in deutscher und meistens auch in französischer und englischer Sprache verfasst.

Kennen Sie das grösste Lebewesen der Schweiz? Es lebt im Nationalpark auf über 35 Hektaren, eine Fläche so gross wie 50 Fussballfelder.

Kein Tier und keine Pflanze erreichen diese Dimensionen. Ein Pilz schon. Das riesige Exemplar im NationalparkExterner Link gehört zur Gattung der Hallimasche.

Sie sind berühmt für ihre gigantischen MyzelienExterner Link. Diese verzweigten, unterirdischen Netzwerke aus unzähligen, mikroskopisch kleinen Pilzfäden bilden den eigentlichen Organismus.

Nur während wenigen Wochen schiessen aus ihnen die oberirdischen Fruchtkörper hervor, die landläufig als «Pilze» bezeichnet werden.

Dass diese gesammelt, gekocht und gegessen werden, ist eine ziemlich neue Erscheinung. Denn lange galten die «Schwämme» als unheimlich und schädlich. Wenig war über sie bekannt. Ihre bösen Dämpfe waren gefürchtet.

Illustration einer Hexe mit Pilzen
Pilze hatten lange Zeit etwas Unheimliches an sich und wurden oft als Teil der Hexerei gesehen. Illustration von Franz Wacik. Wikimédia

Tatsächlich können Pilze Erbrechen, Durchfall oder Kopfschmerzen auslösen, die Sinneswahrnehmung verzerren, den Herzschlag beeinflussen, im schlimmsten Fall bis zum Tod führen.

Bei diesen Risiken ist es kein Wunder, dass Pilze erst genussfähig wurden, als man die Giftigen systematisch von den Nahrhaften unterscheiden konnte.

Das dafür nötige Wissen erweiterte und verbreitete sich erst ab dem 19. Jahrhundert, auch wenn es Ausnahmen wie die Champignonzuchten in den Pariser Katakomben oder regionale Spezialitäten gab.

Tuschzeichnung: Menschen arbeiten unter und über Tags an der Pilzernte
In den Pariser Katakomben wurden ab dem 18. Jahrhundert Champignons gezüchtet, die bald als Delikatesse galten. Internet Archive

Zum neuen Interesse an den Pilzen trugen sowohl die Forschung als auch begeisterte Laien bei. Die neuen Methoden und Erkenntnisse der Lebenswissenschaften richteten sich auch auf die Fungi.

Unter vielen anderen befasste sich der damals berühmteste französische Wissenschaftler mit Pilzen: Louis Pasteur, bis heute für sein Verfahren der Pasteurisierung bekannt, wies nach, dass die Vergärung von Trauben zu Wein Hefepilzen zu verdanken war. Giftige Dämpfe? Schwamm drüber und Prost drauf!

Parallel zur akademischen Forschung entstand eine Laienkultur. Hier drehte sich alles um die grossen Waldpilze. Das Ziel war klar: Speisepilze erkennen, Vergiftungen verhindern.

Die Frage lautete: Wie lassen sich Menschen darin schulen, Pilze systematisch und sicher zu identifizieren? Die Antwort: Mit Kunst. Pilze waren schwierig zu konservieren. Deshalb behalf man sich mit Zeichnen und Malen, um ihre Farben und Formen festzuhalten.

Neben Wissenschaftlern wie Louis RuffieuxExterner Link in Freiburg oder Privatgelehrten wie Jeanne Favre in Genf verschrieb sich auch Hans Walty (1868–1948) der Pilzmalerei.

Im Unterschied zu anderen Pilzmalerinnen und -malern war Walty ausgebildeter Kunstmaler. Seine Pilzaquarelle schuf er in einzigartiger künstlerischer Qualität, wie jetzt in einer neuen Edition wiederentdeckt werden kann.

Zugleich eignete sich Walty ein grosses, wissenschaftliches Wissen über Pilze an und bildete sich zu einer Art semiprofessionellem Pilzforscher aus.

Ölgemälde: Porträt eines Manns ,it Bart und Brille in einem Labor
Louis Pasteur, dargestellt als Held in seinem Labor. Das Porträt wurde 1885 von Albert Edelfelt gemalt. Wikimédia/オルセー美術館

Mit der doppelten Begabung als Künstler und Laienforscher traf Walty einen Nerv. Als gegen Ende des Ersten Weltkriegs Lebensmittelknappheit herrschte, wurden Pilze im grossen Stil zu einem begehrten Nahrungsmittel.

Immer mehr Menschen gingen in gebückter Haltung durch die Schweizer Wälder und hofften, Speisepilze zu finden. In vielen Städten entstanden Pilzmärkte.

Diese Popularität mündete 1919 in der Gründung des Verbands Schweizerischer Vereine für Pilzkunde. Dieser gab ab 1923 die Schweizerische Zeitschrift für PilzkundeExterner Link heraus und publizierte ab 1942 die «Schweizer Pilztafeln».

Diese kleinen, hosensacktauglichen Bändchen gehörten bald zur Standardausrüstung der Pilzenthusiastinnen und -enthusiasten. Illustriert waren sie mit Zeichnungen von Hans Walty.

Eine Frau verkauft einen Haufen Pilze, die auf einem Tisch liegen
Pilzverkauf auf dem Zürcher Bürkliplatz im Spätsommer 1973. e-pics

Nachdem es während des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit um Pilze etwas ruhiger wurde, flammte das Interesse im 21. Jahrhundert neu auf.

Diesmal ist es die Klima- und Abfallkrise, welche die Pilze in den Fokus rückt: Als Baustoff sollen sie klimaschädlichen Beton ersetzen, als Verpackungsmaterial Styropor überflüssig machen und als Recycling-Tool Plastik und Industriemüll zersetzen.

Als Metapher können sie zudem unser Zusammenleben in kooperativen Netzwerken inspirieren.

In Zeiten, in denen alles über weltweite Netzwerke redet, fasziniert und inspiriert das Myzel. Pilze durchwuchern Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Manchmal scheint es, sie könnten die Welt retten.

Wem das zu abgehoben ist, kann ganz einfach durch den Herbstwald streunen und nach Pilzen suchen. Das hebt die Laune. Und ist schon mal ein Anfang.

Hannes Mangold verantwortet die Forschungspartnerschaften der Schweizerischen Mobiliar Genossenschaft. Er macht Ausstellungen, Bücher und Projekte zwischen Wissenschaft, Kunst und Geschichte.

Der Originalartikel im Blog des Schweizerischen NationalmuseumsExterner Link

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