Im heissen Sommer 1980, als Zürich brannte
Vor 30 Jahren rissen junge Menschen Zürich aus seinem diskreten Bankgeschäfts-Alltag und stellten die Stadt auf den Kopf. Einen heissen Sommer lang "brannte" Zürich, im Namen einer alternativen Kultur und Kunst von unten.
«Züri brännt» sang oder kreischte vielmehr die junge Sängerin der Zürcher Band TNT. Die wilde, nur 44 Sekunden kurze Punk-Eruption brachte das Lebensgefühl der aufbegehrenden Jugend in der Limmatstadt in jenem heissen Sommer auf den Punkt.
Am 30. Mai 1980 versammelte sich vor dem Opernhaus eine grosse Menge zorniger junger Menschen. Sie waren gekommen, um gegen die 60 Millionen Franken zu protestieren, mit denen die Stadtregierung das angejahrte Symbol der Hochkultur sanieren wollte.
Es war der Beginn der Zürcher Jugendunruhen, die es sofort in die Schlagzeilen der nationalen und internationalen Medien schafften. Sie präsentierten einer perplexen Öffentlichkeit Bilder mit eingeschlagenen Schaufenstern, geschlossenen Läden, brennenden Autos und einer überforderten Polizei. Die Bilanz der Strassenschlachten: Tausende Verhaftete, unzählige Verletzte, ein Todesopfer.
«Jede Woche kam es zu stundenlangen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, welche die Strassen mit Tränengas füllte – es war wie in einem Kriegsgebiet», erinnert sich Olivia Heussler gegenüber swissinfo.ch.
Lebendige Geschichte, nicht nur auf Bildern
Als Aktivistin hatte sie damals die Unruhen in ihrer Stadt mit der Kamera begleitet. Die besten Bilder vereint sie im Band «Zürich, Sommer 1980», den Heussler zum 30. Jahrestag der Unruhen publiziert hat.
Die Zürcher Unruhen waren Teil einer europaweiten Bewegung, in der eine rebellische Jugend für mehr kulturelle Freiräume kämpfte. Dies als Kampfansage an die traditionelle, «verschlafene» Kultur für eine satte Bürgerelite, die mit Millionensummen subventioniert wurde.
«AJZ subito!»
Ausdruck dieses Kulturverständnisses: Das Zürcher Nachtleben hatte reglementsgemäss um 23 Uhr zu enden, Tanzveranstaltungen waren an religiösen Feiertagen strikt verboten, und die Zürcher Stadtregierung tat sich äusserst schwer, Rockmusik als legitime Kulturform anzuerkennen.
Ihre eigene Kultur wollten die «Bewegten» ausserhalb der existierenden Orte und Institutionen in einem Autonomen Jugendzentrum, AJZ genannt, veranstalten. «AJZ subito!» skandierten die Demonstranten deshalb in der Bahnhofstrasse.
Bereicherung
«Zürich gehört heute zu den besten Kulturstädten Europas, weil die damalige Gegenkultur später Teil der Kulturpolitik wurde», sagt Hanspeter Kriesi, Professor für politische Wissenschaften an der Universität Zürich. In den 1970er-Jahren hätten die Behörden starrköpfig und mit Unverständnis auf die Jugendforderungen reagiert, so der Politologe gegenüber swissinfo.ch
Kriesi sieht die Zürcher Jugendunruhen als Folge einer wachsenden Frustration in dieser Dekade darüber, dass Musiker, Schauspieler und Künstler einer neuen Generation von der Verteilung der Geldern aus dem städtischen Kultur-Fördertopf ausgeschlossen waren.
Spirale der Gewalt
Die Bewegung wollte ihre Vorstellungen von Kulturschaffen in eigenen Jugend- und Kulturzentren verwirklichen. Das politische Establishment lehnte diese Forderungen aber rundweg ab.
Darauf schritten die Bewegten zur Tat, besetzten leer stehende Fabrikräume und riefen diese kurzerhand zu alternativen, sprich nichtkommerziellen und selbstverwalteten Jugend- und Kulturzentren aus.
Die Polizei schaute dem Treiben nicht lange zu und räumte die Besetzungen wieder. Offizieller Grund: Dort würden Drogen gehandelt und konsumiert.
60-Mio. Franken-Provokation
Eine zentrale Rolle begann nun ein stillgelegter Industriebetrieb am rechten Seeufer zu spielen: Die Rote Fabrik. Von den Behörden zum Abbruch frei gegeben, stimmten die Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher an der Urne deren Erhaltung und Umwandlung in ein Kulturzentrum zu.
Die Stadtregierung schaltete immer noch auf stur und sprach für die Renovation des Opernhauses einen stolzen Kredit von 60 Mio. Franken.
Vollends ins Fettnäpfchen trat die Stadtregierung mit dem Plan, den Opernbetrieb während der Bauarbeiten ausgerechnet in der – Roten Fabrik weiter zu führen.
Die Wut über solch mangelndes politisches Fingerspitzengefühl entlud sich am eingangs erwähnten 30. Mai 1980 bei der Demonstration vor dem Opernhaus. Unterstützt von einer Menschenmenge, die von einem Konzert des Reggae-Übervaters Bob Marley kam, kam es rasch zur Auseinandersetzung, die als Opernhaus-Krawall in die Geschichte einging.
Dieser Opernhaus-Krawall, später auch besungen vom österreichischen Rap-Pionier Falco, läutete den heissen Zürcher Sommer 1980 ein.
Bis zur Selbstverbrennung
«Es herrschte eine riesige Wut darüber, dass die Jungen von den Kultursubventionen ausgeschlossen waren», sagt Louis Frölicher. Der heutige Mitarbeiter der Roten Fabrik erlebte die Jugendunruhen als 27-jähriger Teilnehmer.
«Wir fanden, die Forderung nach Jugendzentren ist offensichtlich, aber als Antwort schickte die Stadt die Polizei, welche die Besetzer rausprügelte», so Frölicher
«Wir hatten utopischen Ideen, wie wir die Gesellschaft mit Kultur verändern wollten, aber keine Räume, uns auszudrücken», sagt Olivia Heussler. «Da kamen wir halt auf den Strassen zusammen – Studenten, Arbeiter, Künstler und Intellektuelle – alle, die unzufrieden waren.»
Eine junge Frau war derart verzweifelt, dass sie sich in der Öffentlichkeit mit Benzin übergoss und anzündete – sie starb an ihren Verbrennungen. Ein Demonstrationsteilnehmer verlor bei einem Polizeieinsatz durch ein Gummigeschoss ein Auge. Viele Menschen hätten bei den rigorosen Polizeieinsätzen bleibende gesundheitliche Schäden erlitten, so Olivia Heussler.
Später Sieg an der Urne
Von Zürich griffen die Unruhen auch auf die Jugend in anderen Schweizer Städten über, wie in Bern, Basel, Lausanne und Genf. Nirgends wurden die Auseinandersetzungen aber härter geführt als an der Limmat.
Nach einem heissen Sommer voller gewalttätiger Auseinandersetzungen erkannten die Stadtoberen die Zeichen der Zeit und überliessen, widerwillig zwar, den Bewegten die Rote Fabrik als Kulturzentrum.
1987 honorierte die Zürcher Bevölkerung an der Urne das vielfältige kulturelle Angebot der Betreiber und verlieh der Roten Fabrik den definitiven Status als Kulturzentrum. Wichtigste Konsequenz: Der Betrieb wird neu mit einem Beitrag aus dem städtischen Kulturbudget unterstützt.
Romantische Sommerabende am See
Die Rote Fabrik funktioniert bis heute und ist etabliert als nicht mehr wegzudenkender Veranstaltungsort, der das kulturelle Leben der Stadt mit Konzerten und Ausstellungen bereichert. Und das nicht zu knappe Angebot an Restaurants mit dem «Ziegel oh Lac», dem direkt am See gelegenen, romantischen Restaurant.
Der auch baugeschichtlich interessante Ziegelstein-Komplex ist noch aus einem anderen Grund wichtig: Die Rote Fabrik vermietet Kulturschaffenden Ateliers zu günstigen Preisen, dank derer sich Künstler, Tänzerinnen etc. ohne allzu grossen Druck weiter entwickeln können.
Neue Konflikte
Auch wenn der kulturpolitische Druck mit der Wende von 1987 stark nachgelassen hat, sind an der Limmat immer noch Spannungen spürbar.
Heute sind es in erster Linie Hooligans, die im Rahmen von Fussballspielen gewalttätige Ausschreitungen anzetteln. Oder der antikapitalistisch ausgerichtete so genannte Schwarze Block, der vor allem in der Nachdemonstration zum Tag der Arbeit am 1. Mai die Konfrontation mit der Polizei sucht.
Aber auch die alternative Kulturszene muss, wenn auch nur noch ab und an, ihren Platz verteidigen. So vor zwei Jahren, als die Stadtbevölkerung einen Antrag einer Rechtspartei ablehnte, die öffentlichen Kredite für das Cabaret Voltaire zu kappen. Dabei handelt es sich um jenes Haus, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts die legendäre Dada-Bewegung gegründet worden war.
«Manchmal werde ich immer noch wütend über Bürokraten, die in ihren Büros sitzen und bestimmen, was Kunst sein soll», sagt Olivia Heussler. Aus ihrer Äusserung weht ein Hauch von Stimmung aus jenem heissen Zürcher Sommer 1980 herüber in die Gegenwart.
Matthew Allen in Zurich, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Künzi)
Laut den Plänen der Zürcher Stadtregierung sollte die leerstehende ehemalige Seidenfabrik im Stadtteil Wollishofen abgerissen werden.
An ihrer Stelle hätte eine Stadtautobahn durchführen sollen.
In einer Initiative forderten die Sozialdemokraten den Erhalt und die Umwandlung in ein Kulturzentrum.
1977 sagte das Zürcher Stimmvolk Ja zu diesem Vorhaben eines alternativen Kulturzentrums.
Erst die Besetzung durch die Jugendbewegung brachte die Stadtregierung dazu, die Initiative in die Tat umzusetzen.
In einer neuerlichen Urnenabstimmung anerkannten die Stadtzürcher 1987 die Rote Fabrik definitiv als Kulturzentrum. 1995 begrüssten die Betreiber den millionsten Besucher.
Häufigste Veranstaltungen sind Konzerte, Theater sowie Workshops. Die Obergrenze für den Eintrittspreis liegt in der Regel bei 30 Franken. Zudem werden auch Ateliers vermietet.
Die Rote Fabrik wird von einem Kollektiv betrieben, das basisdemokratisch organisiert ist.
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