Simon Ammann fliegt wieder realistischere Ziele an

Doppel-Olympiasieg, Gewinner des Weltcups, Skiflug-Weltmeister: Im letzten Winter flog Simon Ammann der Konkurrenz um Längen davon. Nach einem schwierigen Sommer ist der Überflieger kurz vor dem Saisonstart vom Wochenende wieder im Weitenfieber.
Der letzte Winter, den er dominierte wie vor ihm noch kein Springer in der Geschichte des nordischen Sports, wird er nicht mehr toppen können. Das weiss Simon Ammann.
Doch der mit vier Goldmedaillen erfolgreichste Olympionike der Schweiz ist immer noch hungrig nach der Sause vom Turm hinunter auf den Schanzentisch und süchtig nach den Flügen in jene Bereiche hinunter, wo die Landung zum Balanceakt an der Grenze des physisch Unmöglichen wird.
Ein gewiefter Tüftler, akribischer Perfektionist, versehen mit einem scharfen analytischen Verstand, hat der bald 30-jährige Toggenburger auch vor dem Start in seinen 15. Weltcup-Winter kein Detail ausser Acht gelassen.
Wenn er im Gespräch mit swissinfo.ch vom Loch spricht, in das er nach seinen unglaublichen Höhen- und Weitenflügen der letzten Saison gefallen sei, erwähnt er sofort auch die wieder gefundene Ruhe und Gelassenheit. Dank dieser Fähigkeiten will er die letzte Lücke schliessen, die in seinem Palmarès noch besteht: Der Sieg an der Vierschanzen-Tournee.
swissinfo.ch: Wie war Ihnen zumute, als Sie im Sommer nach diesen historischen Erfolgen die Saisonvorbereitungen aufgenommen haben?
Simon Ammann: Um ehrlich zu sein, hätte ich mir manchmal gewünscht, ich könnte zappen und diese Zeit überspringen, um die Form aus dem letzten Winter direkt in die neue Saison hinüber zu nehmen.
Es tauchten Probleme auf, mit denen wir nicht gerechnet hatten. Anfang Juli hatte ich derart starke Rückenschmerzen, dass ich die Schuhe nicht mehr selbst schnüren konnte. Erst mit ausgedehnter Gymnastik konnte ich das Problem – es handelte sich um eine Instabilität der unteren Lendenwirbelsäule – beheben. Heute kann ich Kniebeugen mit einem zusätzlichen Gewicht von 85 Kilogramm machen, es geht also wieder aufwärts.
Es gab aber auch sehr gute Neuigkeiten, beispielsweise meine beiden neuen Hauptsponsoren. Dabei geht es nicht nur allein ums Geld, sondern um Stimulation und Motivation. So konnte ich mit einem der besten Sportfotografen der Welt zusammen arbeiten und war beeindruckt von der Leidenschaft, mit der er ans Werk geht.
Und dann war im Juli natürlich die Heirat mit meiner Frau Yana. Es war ein aussergewöhnlicher Tag am Zürichsee, auch wenn es schlussendlich nicht ganz gelang, den Anlass geheim zu halten (lacht).
swissinfo.ch: Sie haben in Vancouver Momente sehr starker Emotionen erlebt. Ist es einfach, danach die Füsse wieder auf den Boden zu stellen und sich neue Ziele zu setzen?
S.A.: Fabian Cancellara hatte sehr genau geschildert, wie er nach seinem Zeitfahr-Olympiasieg 2008 in Peking in ein Loch gefallen war. Das lässt sich praktisch nicht vermeiden.
Im letzten Winter funktionierte für mich alles perfekt. Es war beinahe verrückt, wie ich praktisch alles erreichte, was ich mir vornahm. Die Bilder von Vancouver aus meinem Kopf bringen, war schwierig. Einem emotionalen Höhepunkt von solcher Intensität folgt fast unvermeidbar ein Sturz ins Leere.
In dieser Situation stellte ich mir sehr viele Fragen und es verging einige Zeit, ehe ich spürte, wie müde mein Körper und auch mein Kopf überhaupt waren.
Auf einmal war diese Verunsicherung da. Aber glücklicherweise konnte ich mich auf die Menschen in meinem Umfeld verlassen, sie wissen, wie mich anstossen. Das funktioniert auch ohne Worte, sie erkennen genau, wenn ich müde bin und frische Ideen gefragt sind.
So entsteht Platz für Neues; Ich entdeckte neue Aspekte des Trainings, namentlich im kognitiven Bereich. Heute verspüre ich die alte Freude, Ruhe und Gelassenheit, wenn ich oben auf dem Schanzenturm stehe.
swissinfo.ch: Mit Ihrem Doppelgold von Salt Lake City 2002 und Vancouver wurden Sie zu einer Ikone des Erfolgs einer modernen Schweiz. Hat sich Ihr Leben dadurch verändert?
S.A.: Im Alltag nehme ich das nicht bewusst wahr. Stellt man mich aber als der erfolgreichste Schweizer Olympiateilnehmer aller Zeiten vor, kann ich kaum glauben, dass dies die Realität ist.
Es ist aber auch unglaublich, welche Energie und Emotionen ich von den Menschen zurück erhalte. Dies hat mir sehr geholfen, meine Motivation wieder zu finden. Gleichzeitig weiss ich auch, dass die Erwartungen der Öffentlichkeit gestiegen sind.
swissinfo.ch: Können Sie diesen Erwartungen überhaupt gerecht werden?
S.A.: Es ist wichtig, dass ich mir wieder ‹realistischere› Ziele setze. Klar hoffe ich, dass ich einige Erfolge erzielen kann. Aber ich muss mich auch wieder an ‹bescheideneren› Leistungen freuen können.
Umgekehrt gibt es einige Springer, die sich an Olympia stark unter Druck gesetzt hatten und jetzt möglichweise befreit springen.
Weil mein Sommer bewegt verlief, habe ich noch nicht dieselbe Konstanz und Stabilität des letzten Jahres. Insbesondere fehlen mir sehr gute Referenzsprünge.
Zu den physischen und psychischen Aspekten kommen auch Änderungen beim Material dazu. Ich musste die Bindung modifizieren und mich an kürzere Sprungskis gewöhnen. Gemäss neuem Reglement bemisst sich deren Länge am Bodymass-Index.
Meine bisherigen Versuche, an Körpergewicht zuzulegen, waren nicht sehr erfolgreich. Trotzdem konnte ich mich vergewissern, dass mich auch kürzere Skis perfekt tragen, sofern ich gut springe. Das gibt mir Selbstvertrauen.
swissinfo.ch: Welche Ziele haben Sie sich vorgenommen?
S.A.: Die Vierschanzentournee hat sicherlich Priorität. Dabei könnte ich von der Gelassenheit aus dem letzten Winter profitieren, um die zehn Wettkampftage am besten zu gestalten. Es wäre fantastisch, wenn ich diese Lücke in meinem Palmarès schliessen könnte.
Der zweite Höhepunkt sind die Weltmeisterschaften in Oslo. Mir haben die Schanzen dort immer zugesagt, sowohl die Alte als auch die Neue.
Was den Gesamtweltcup betrifft, ist es momentan sehr schwierig zu spekulieren. Alles hängt von den ersten Springen ab. Ich hoffe, dass mir die Medien und das Publikum etwas Freiraum lassen. Ich möchte ohne Druck an die neuen Herausforderungen herangehen. Spielt alles zusammen, kann der Winter wiederum sehr erfolgreich werden.
Erstmals seit langem verfügen wir auch wieder über ein Team, so dass wir an den Mannschaftsspringen dabei sein können. Das motiviert mich enorm.
Neben Andreas Küttel springt Marco Grigoli, eine grosse Schweizer Hoffnung im Skispringen. (Der vierte Springer für den ersten Teamwettkampf in Kuusamo ist nach dem Rückzug von Rémi Français noch nicht bestimmt, die Red.).
swissinfo.ch: Wie lange sehen wir Sie noch oben am Anlauf?
S.A.: Darauf habe ich keine Antwort. Es kann sein, dass ich Ende dieses Winters aufhöre. Ebenso gut könnte ich bis zu den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi weitermachen. Darüber denke ich aber nicht während der Saison nach.
Aber wenn alles passt und der Rücken keine Probleme bereitet, werde ich im nächsten Frühling sicher nicht aufhören.
Simon Ammann
Der 29-jährige St. Galler ist 172 cm gross und 60 Kilo schwer.
An den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City gewinnt er Gold sowohl auf der Normal- wie auch auf der Grossschanze.
An den Spielen 2010 in Vancouver holt sich Ammann ebenfalls Gold auf beiden Schanzen.
An den Weltmeisterschaften 2007 in Sapporo gewinnt er Gold auf der Grossschanze und Silber auf der Normalschanze.
An der WM in Liberec 2009 kommt Bronze auf der Normalschanze dazu.
2010 wird Simon Ammann als erster Schweizer Gesamtweltcup-Sieger.
Zum Abschluss der einmaligen Saison gewinnt er 2010 die Skiflug-WM im slowenischen Planica.
Der Skisprung-Weltcup beginnt am Samstag im finnischen Kuusamo mit einem Teamspringen und endet am 20. März 2011 auf der Flugschanze von Planica (Slowenien).
In Ammanns Fokus steht in erster Linie die Vierschanzentournee über den Jahreswechsel. Der Toggenburger hat den Klassiker noch nie gewinnen können.
Zweiter Höhepunkt des Winters ist die WM in Oslo, die vom 22. Februar bis 6. März 2011 dauert.
Traditionell gastiert der Weltcup-Tross auch in Engelberg im Kanton Obwalden, wo am 18. und 19. Dezember 2010 zwei Springen anstehen.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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