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Die dunkle Faszination des Mittelalters

Das Mittelalter fasziniert immer wieder! Tjoster

Mittelalterliche Feste und Veranstaltungen boomen seit Jahren. Noch bis 24. August setzt auch die Stadt Bern einen entsprechenden Akzent.

Das fiktive Eintauchen ins Mittelalter gibt Gelegenheit zur Unterhaltung und zum Träumen.

Um die 650 Jahre Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft zu feiern, setzt auch der Kanton Bern auf ein grosses Mittelalter-Spektakel.

Statt der üblichen thematischen Ausstellungen hat das Historische Museum von Bern beschlossen, mittelalterliches Leben nachzustellen. Ritterturniere, Feldlager, Theater-Ensembles, Akrobaten und ein Mittelalter-Markt werden den Platz vor dem Museum animieren.

Wie in anderen europäischen Ländern ist auch die Schweiz von der Mittelalter-Welle erfasst worden. Es begann schon vor Harry Potter mit dem Bestseller «Der Herr der Ringe». Weltweit ist ein Interesse am Geheimnis der mittelalterlichen Epoche festzustellen.

1994 führte Estavayer-le-Lac als erste Gemeinde mit einem mittelalterlichen Stadtkern eine Veranstaltung durch, welche die mittelalterlichen Zeiten aufleben liessen. Ein Dutzend Städte ahmten dieses Beispiel nach. Der Virus ging von der französischen Schweiz aus, erfasst aber zusehends auch die Deutsche Schweiz.

Alte Berufe anschaulich machen

«Anfänglich schien es eine kurze Modeerscheinung zu sein. Doch dann merkte ich, dass mittelalterliche Feste immer mehr Menschen anzogen», sagte Jean-Daniel Rytz, Gründer der Mesnie des Bousquines en Barbe, eines der vielen neugegründeten Mittelalter-Ensembles. Die Kompanie aus Avenches tritt regelmässig bei mittelalterlichen Festen auf.

«Unser Ensemble besteht zur Hauptsache aus Handwerkern, die mit Hilfe historischer Bücher oder von Archäologen alte und praktisch vergessene Arbeitstechniken wiederentdeckt haben», sagt Jean-Daniel Rytz, der im alltäglichen Leben als Direktor einer sozialen Einrichtung tätig ist.

Die mittelalterlichen Feste stellen somit eine einmalige Gelegenheit dar, Bäcker, Sattler, Hufschmiede oder Töpfer bei der Arbeit – so wie sie einst erfolgte – zu beobachten. Diese Aktivitäten haben beim Publikum genauso viel Erfolg wie Ritterspiele oder Gaukler.

Rytz ist in der mittelalterlichen Stadt Murten aufgewachsen. Die Mittelalterfeste stellen seiner Ansicht nach eine einmalige Möglichkeit dar, das Wissen um die eigene Geschichte anzureichern. „In gewisser Weise ist es mein privater Kampf gegen die standardisierten und vorfabrizierten Produkte der globalisierten Welt, welche die Leute sowieso zusehends langweilen.“

Neue Sichtweisen

Die «Company of St George» gehört zu den Hauptattraktionen des Mittelalter-Spektakels in Bern. Es handelt sich um das bekannteste Mittelalter-Ensemble der Schweiz, das von John Howe geleitet wird. Der bekannte Zeichner wohnt seit einigen Jahren in der Schweiz.

Mit historischen Kostümen und nachgebauten Werkzeugen möchte das Ensemble das alltägliche Leben in einer Militär-Garnison mitsamt seinen Helfern und Handwerkern nachstellen.

«Die Überlieferungen aus dem Mittelalter sind fragmentarisch. In Museen ausgestellte Fundstücke sagen uns häufig nichts. Deswegen versuchen wir, diesen Dingen wieder einen Sinn zu geben, indem wir den Menschen in den Mittelpunkt stellen», erklärt Howe, der die meisten Illustrationen zur berühmten Trilogie «Der Herr der Ringe» gezeichnet hat.

Für den Künstler kanadischer Abstammung muss die Schweiz und Europa ihren historischen kulturellen Reichtum unbedingt pflegen und erhalten.

«Wir wollen vor allem einen alternative Sichtweise auf das Mittelalter ermöglichen», sagt Howe. Bis heute sei diese Zeitepoche einerseits von vielen Klischees besetzt. Andererseits fasziniere das Mittelaltert, weil es eine je eigene Sichtweise und Interpretation zulasse.

Ort der Utopien

Trotz seiner dunklen Seiten fasziniert das Mittelalter tatsächlich bis heute. Und wahrscheinlich ist die Anziehungskraft grösser als diejenige anderer Epochen.

«Das Mittelalter hat ein sehr schlechtes Image hinterlassen, gleichzeitig aber auch ein idealisierendes und verklärtes», meint Agostino Paravicini, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Lausanne. «Vor allem nach den 68er Jahren ist das Mittelalter eine Art utopischer Ort geworden.»

So erstaunt es nicht, dass in Ritterspielen und anderen mittelalterlichen Veranstaltungen Werte wie Liebe, Mut und Treue verklärt werden. «Oft sucht man nach Werten, die in der gegenwärtigen Gesellschaft als verloren gegangen gelten,» meint Historiker Paravicini.

«Das Interesse am Mittelalter ist wie eine Schnitzeljagd», sinniert John Howe. Eigentlich müsse man eingestehen, sehr wenig Ahnung über dieses Jahrtausend Zeitgeschichte zu haben.

Armando Mombelli, swissinfo
(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

1353: Der Kanton Bern wird Mitglied der Eidgenossenschaft.

2003: Mittelalter-Spektakel in Bern zum Jubiläum «650 Jahre in Eidgenossenschaft» (im August).

16’000 verkaufte Billette für die Ritterspiele.

Das erste Mittelalter-Fest in der Schweiz dürfte auf das Jahr 1976 zurückreichen, als der 500. Jahrestag der Schlacht von Grandson begangen wurde.

Seit Mitte der 90er Jahre gibt es einen regelrechten Boom an Mittelalter-Festen, ausgehend vom Spektakel, das Pierre de San in Estavayer-Le-Lac veranstaltete.

Seither fanden etliche Mittelalter-Feste in Schweizer Städten statt: in Greyerz, Freiburg, Saillon, Romainmôtiers, Bonneville, Saint-Ursanne, Morges, Burgdorf.

Am Rande dieser Feste wurden Mittelalter-Ensembles gegründet, die theatralische Szenen aus der damaligen Epoche aufführen. Soldaten, Handwerker und Köche sind die geläufigsten Figuren in den Darstellungen

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