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«Die Schicht ist entscheidender als die Herkunft»

Hat als Kind erlebt, was es heisst, sich nicht verständigen zu können: Melinda Nadj Abonji. Keystone

Unter den Nominierten für den Schweizer Buchpreis ist auch Melinda Nadj Abonji, die für den Roman "Tauben fliegen auf" den Deutschen Buchpreis erhielt. swissinfo.ch sprach mit ihr über Sprachlosigkeit, die Ausschaffungs-Initiative und Rassismus.

swissinfo.ch: Der Rummel um Sie ist zurzeit gross. Was würde es Ihnen bedeuten, wenn Sie nach dem Deutschen noch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet würden?
Melinda Nadj Abonji: Ich glaube, es reicht so. Soeben habe ich erfahren, dass ich von der Stadt Zürich einen Preis erhalte.

Das hat mich extrem gefreut, weil ich mit Zürich sehr verbunden bin. Mein Dossier hatte ich bereits eingereicht, bevor das Ganze losging. Mein Konto war damals unter Null und ich war verschuldet.

Ich nehme die Sachen von Tag zu Tag, sonst geht es nicht. Ich lebe im Moment in einer Gegenwelt zum stillen Schaffen – und vermisse bereits das Schreiben.

swissinfo.ch: Letztes Jahr hat Ilma Rakusa, die in der Slowakei geboren ist, mit «Mehr Meer» den Schweizer Buchpreis gewonnen. Es ist verschiedentlich von einer neuen Generation von Secondo-Schriftstellern die Rede. Wie sehen Sie das?

M.N.A.: Es freut mich natürlich, wenn sich ausländische Leute der ersten, zweiten oder dritten Generation durch das Buch irgendwie bestärkt fühlen. Doch mit dem Etikett Migranten- oder Secondo-Literatur kann ich überhaupt nichts anfangen, es dient Journalisten lediglich zur Vereinfachung.

Ich habe in «Tauben fliegen auf» über Jugoslawien und das Wegziehen in die Schweiz geschrieben, aber es ist deshalb nicht mein einziges Lebensthema.

Natürlich spielt das Herkunftsland eine Rolle, doch für mich ist die Schicht entscheidender. So hat mich etwa die kroatische Lyrikerin Dragica Rajcic, die wie ich aus dem Arbeitermilieu stammt, sehr beeinflusst.

Da muss man anders kämpfen, wenn man Schriftstellerin werden will, auch innerhalb der Familie. Man hat auch keine Beziehungen, keinen Onkel, der in der Literaturkommission sitzt. Ich habe aber auch keinen Druck und muss mich nicht mit dem erfolgreichen Grossvater vergleichen.

Auch die Hauptfiguren im Buch sind aus der unteren Schicht. Intelligente Menschen wie etwa die Grossmutter, die nicht im landläufigen Sinn gebildet sind. Mich fasziniert diese Intelligenz, die mit Schulwissen nichts zu tun hat.

swissinfo.ch: Sie kamen mit 5 Jahren als Tochter ungarischer Serben aus der Provinz Vojvodina zu Pflegeltern in die Schweiz. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer Zeit des Schweigens. Im Unterschied zu den Eltern von Ildiko, der Protagonistin im Buch, die jedes Mal schwitzen, wenn sie Deutsch reden, konnten Sie die Sprachbarriere erfolgreich überwinden.

M.N.A.: Die Generation meiner Eltern hatte effektiv damit zu kämpfen, dass sie sofort in die Arbeitswelt kamen und durch ihre Sprachlosigkeit auch ausgenutzt wurden. Meine Eltern, die in der Wäscherei, im Service, in der Metzgerei arbeiteten, hatten einen sehr eng gesteckten Stundenplan.

Sie haben sich nicht um einen Deutschkurs gedrückt, sie haben einfach nie einen gemacht, weil es zeitlich gar nicht möglich war.

Ich selbst hatte als Kind einen anderen Kampf. Bei mir ging es nicht ums Berufsleben, sondern ausschliesslich ums Seelenleben. Nach meiner Ankunft in der Schweiz machte ich die drastische Erfahrung, dass ich mich während eines Jahres nicht verständigen konnte.

Diese Sprachlosigkeit, dieses Gefühl nicht verstanden zu werden, war ein katastrophales Erlebnis. Doch ich habe dadurch auch erfahren, was es bedeutet, sich verständigen zu können.

Dass ich heute mit der Sprache arbeite, dass das mein Beruf ist, ist denn auch mehr als nur ein Mädchentraum. Sprache ist mein Lebensinhalt und das wird auch immer so bleiben.

Inwiefern die ungarische Muttersprache mein Schreiben prägt, kann ich nicht genau sagen. Doch ich glaube, wenn man mit zwei so grundsätzlich unterschiedlichen Sprachen aufwächst, dann passiert da irgendetwas. Ich habe das Ungarische über Lieder gelernt, was sich sicher auch auf Rhythmus und Tonalität der Sätze auswirkt.

swissinfo.ch: Sie sagen, ihre Eltern mussten hart arbeiten, hatten keine Zeit für einen Deutschkurs. Was halten Sie von der aktuellen Integrationsdebatte und der Deutschlernpflicht für Ausländer?

M.N.A.: Die Realität ist komplexer als man vorgibt. In der aktuellen Integrationsdebatte wird oft vergessen, dass Menschen, die aus einem anderen Land in die Schweiz kommen und wenig verdienen, sehr viel arbeiten müssen.

Es ist oft auch sehr schwierig, an die ausländischen Leute heranzukommen, insbesondere die erste Generation, gerade wegen dieser starken Eingebundenheit in den Arbeitsalltag, aber auch weil sehr viele Ängste da sind. Da gilt es zuerst mal Vertrauen aufzubauen.

Ich bin auch davon überzeugt, dass es für Ausländer sehr wichtig ist, die jeweilige Landessprache zu lernen, doch man muss zuerst die Möglichkeiten dafür schaffen. So sollten etwa die Betriebe bereit sein, den Angestellten für Deutschkurse Zeit einzuräumen.

swissinfo.ch: Die Familie in Ihrem autobiographisch gefärbten Buch versucht sich dermassen anzupassen, dass sie die eigene Identität völlig aufzugeben droht. «Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten», sagt etwa die Mutter. Wie sähe ihrer Ansicht nach eine sinnvolle Integrationspolitik aus?

M.N.A.: Das ist eine grosse Frage. Es heisst immer wieder, man muss sich anpassen. Doch an was oder wen? Gibt es einen Durchschnittsschweizer? In Deutschland verwendet man ja diesbezüglich den Begriff Leitbild, das wirkt für mich sehr unbeholfen.

Es ist tragisch, doch es geht heute häufig um Polarisierung und nicht um Kommunikation. Ich bin ja einverstanden, dass man in einer Gesellschaft einen gewissen Grundcode teilen muss, sonst funktioniert es nicht.

Doch dass man solche Leitbilder formuliert, aber nur wenig dafür macht, diese verständlich zu machen und den Austausch zu fördern, finde ich ein bisschen mager. Man könnte von den anderen Menschen ja auch etwas mehr mitnehmen ausser den kulinarischen Spezialitäten.

Ich denke, es besteht ein generelles Desinteresse gegenüber dem Fremden, wobei die Angst einfach noch ein schlechter Begleiter ist.

swissinfo.ch: Vor sechs Jahren, als Sie an «Tauben fliegen auf» zu schreiben anfingen, warb die SVP für ihre umstrittene Einbürgerungs-Initiative, jetzt, bei der Veröffentlichung, steht die Ausschaffungs-Initiative an. Hat sich ihrer Ansicht nach die Ausländerdebatte verändert?

M.N.A.: Es ist eine Dauerpolemik, ein Dauerwahlkampf, den die SVP führt, und das Ganze hat sich verschärft. Im Moment haben wir mit der Ausschaffungs-Initiative einen erneuten Kulminationspunkt, wobei es seit 2004 verschiedene Abstimmungen gab, die in diese Richtung gingen. So etwa das neue Ausländergesetz, das ein Zweiklassen-Europa schafft.

Es ist traurig, weil man das alles in gewisser Weise schon akzeptiert. Die SVP-Plakate mit den grobschlächtigen Männern mit Bart und Schnauz zeugen von einer unglaublichen Verachtung. Die Sündenböcke heissen etwa Ivan S. – man soll sich wahrscheinlich das –ic denken – und werden mit Begriffen wie Vergewaltiger in Zusammenhang gestellt.

Solche Plakate sind so weit entfernt von dem, was ich mir erhoffe und was ich tragbar finde für eine demokratische Gesellschaft. Dass man das überhaupt aufhängen darf, dass so etwas seit Jahren salonfähig ist.

Natürlich hat es mit Geld zu tun, dass eine Partei überall solche Plakate aufhängen kann. Die Plakate sind omnipräsent und prägen sich in die Köpfe. Und man kann nichts dagegen machen. Ich als Demokratin darf sie weder durchstreichen noch herunterreissen, sonst werde ich noch festgenommen.

Eine solche Demokratie widerspricht sich hundertprozentig. Ich glaube, dass auch sehr viele Schweizerinnen und Schweizer sich durch diese Plakate irritiert fühlen und denken, weshalb muss ich so ein Plakat anschauen.

swissinfo.ch: Ildiko und ihre Familie werden in «Tauben fliegen auf» wiederholt mit Rassismus konfrontiert. Das geht von abschätzigen Yugo-Sprüchen der distinguierten Gäste in dem von den Eltern geführten Café «Mondial» an der Goldküste, bis hin zu einer verkackten Unterhose und einer mit Fäkalien verschmierten Wand in der Toilette.

M.N.A.: Die WC-Szene ist für mich immer noch sehr drastisch. Es geht bei dieser Szene keineswegs um eine Überspitzung, sondern es hat sich genau so abgespielt.

Es gab auch immer wieder Beschimpfungen gegenüber meinen Eltern in der Nachbarschaft und in ihrem Café. Doch am stärksten war in unserer Familie eigentlich mein Bruder von Diskriminierung betroffen, weil er nicht gut in Deutsch und damit auch in den anderen Fächern schlecht war. Niemand hat sich um ihn gekümmert, man hat einfach angenommen, er sei unbegabt. Ihm geschah viel Unrecht.

swissinfo.ch: Die Protagonistin lebt in Welten voller Kontraste. Im Buch wird etwa eindrücklich beschrieben, wie im «Mondial» Kaffee serviert und Kartoffeln gerüstet werden, während Verwandte und Bekannte wegen dem Krieg in Jugoslawien in Gefahr sind.

M.N.A.: Es gibt ein Vakuum, die Arbeit erscheint plötzlich sinnlos angesichts dessen, dass es bei Verwandten und Bekannten in der Heimat um Leben und Tod geht.

Dies ist insofern gefährlich, weil man in dieser Situation bereit ist, sehr vieles zu schlucken. Weil man denkt, andere müssen so stark leiden. Dann ist das eigene Leiden gar kein Thema mehr.

In Anbetracht von Leben und Tod verblasst alles andere. Und trotzdem, wenn man nichts macht, dann ist man vielleicht plötzlich auch tot aus Erschöpfung oder hat keine Identität mehr.

swissinfo.ch: Im Buch geht es auch um die Entfremdung der Heimat und die Kluft zwischen sozialem Aufstieg und innerer Befindlichkeit. Sie beschreiben etwa, wie die Familie mit dem Mercedes in der Vojvodina durch die kleinen Strassen voller Staub einfährt und alle Blicke auf sich zieht. Und wie sich Ildiko einfach nur schäbig fühlt.

M.N.A.: Es geht dabei auch um einen Konflikt zwischen Eltern und Kindern. Für die Eltern ist das teure Auto eine Art Genugtuung, denn wer über materielle Sicherheit verfügt, hat es geschafft.

Die Kinder sehen dies indes aus einer anderen Perspektive. Sie stellen sich vielmehr die Frage, habe ich etwas dafür gemacht, dass es so ist, wie es ist. Dadurch, dass es von den anderen bewundert wird, fühlt das Kind mehr das Aussenseitertum, als dass es denken würde «Wir haben es geschafft, wir sind jetzt die Reichen».

Das ist eine grundlegende Wahrheit. Diese Art von sozialem Aufstieg ist rein äusserlich, es geht nicht um ein inneres Gefühl. Für die Eltern ist die materielle Anhäufung die einzige Möglichkeit vorwärts zu kommen.

Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in der serbischen Provinz Vojvodina geboren. Ihre Familie gehört der ungarischen Minderheit an.

1973 zog sie in die Schweiz. Sie studierte Deutsch und Geschichte. Nebenbei hat sie während rund 20 Jahren in den von ihren Eltern geführten Cafés gearbeitet.

Naj Abonji ist Autorin, Musikerin und Textperformerin.

2004 erschien ihr Romandebüt «Im Schaufenster im Frühling».

Für den Roman «Tauben fliegen auf» wurde sie mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Melinda Nadj Abonji erzählt in ihrem autobiographisch gefärbten Roman «Tauben fliegen auf» die Geschichte der Familie Koscsis, die in die Schweiz auswandert.

Die Koscsis stammen aus der serbischen Provinz Vojvodina und gehören der ungarischen Minderheit an.

Sie seien mit einem Koffer und einem Wort in die Schweiz gekommen, dem Wort Arbeit, sagt der Vater.

Die Koscsis führen zuerst eine Wäscherei, bevor sie an der Goldküste das Café «Mondial» pachten können, wo die bürgerliche Kundschaft ihren Kaffee trinkt.

Im Roman geht es um das Leben in verschiedenen Welten, um die Entfremdung von Eltern und Heimat, Diskriminierung und die Kluft zwischen sozialem Aufstieg und innerer Befindlichkeit.

Für den Schweizer Buchpreis 2010 nominiert sind folgende Werke: «Einladung an die Waghalsigen» von Dorothee Elmiger, «Paarbildung» von Urs Faes, «Der Goalie bin ig» von Pedro Lenz, «Notizen und Details 1964 – 2007» von Kurt Marti und «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji, die für ihren Roman bereits mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Verliehen wird der Preis am 14. November an der BuchBasel.

Es ist die dritte Ausgabe des Schweizer Buchpreises: Erster Preisträger war Rolf Lappert, 2009 gewann den Preis Ilma Rakusa.

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