Familienalbum als Flügelaltar

Unglücklich glücklicher Zufall: Weil Starregisseur Einar Schleef krank wurde, fiel im Januar «Macht nichts» in Berlin ins Wasser. Dadurch kam Zürich zur Ehre einer Elfriede Jelinek-Uraufführung. Jossi Wieler inszenierte kongenial, bildstark und begeisternd.
Ist’s ein Kasperltheater? Ein Flachdach-Schulhaus? Eher wohl hat die trödelverliebte Bühnenbildnerin Anna Viebrock einen Plattenbau gemeint. Ein dreigeteiltes Panoramafenster, verhangen mit vergilbter Kunst-Faser-Gardine, trübt den Blick auf ein miefiges 60er-Jahre-Mietheim. Gleichzeitig gemahnt es aber auch ehrfurchtgebietend an einen Flügelaltar.
In der Stube herrschen Spitze und Schleiflack, im Mädchenzimmer links Plastikchic, das Schlafzimmer rechts hat Anstalts-Charme. Mutter, Vater, Tochter sitzen geknickt am Esstisch. Eingenickt wohl- vielleicht aber auch schon verstorben. Denn in der Einstellhalle im Souterrain patroulliert wie ein Refrain dann und wann ein Jägersmann. Das lässt nichts Gutes ahnen.
Doch wie Finger in einen Handschuh schiebt sich – einzeln, nach-, miteinander – Leben in die Figuren.
Gemeinsam verschieden
Elfriede Jelineks 1999 erschienene «kleine Trilogie des Todes» mit dem Übertitel «Macht nichts» besteht aus den Monologen «Erlkönigin» und «Der Wanderer», sowie einem Dialog «Der Tod und das Mädchen» zwischendrin. Hinter den drei Schubert-Titeln stecken- wie die Autorin sagt – die Schauspielerin Paula Wessely, Schneewittchen und der Jäger sowie Jelineks Vater.
Die Figuren sind nicht verwandt. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie gestorben sind. Sie alle sind Untote, nicht tot zu Kriegende, die uns an sich erinnern müssen, damit wir wissen, wohin wir fallen, wenn die dünne Bodenkruste der Realität einbricht.
Die Erlkönigin – zu ihrer Zeit ein Star wie heute nur Sportler – bedankt sich für die ihr vom Publikum verliehene Macht, Macht über das Publikum auszuüben. Teenie Schneewittchen wird vom Ejakulat des Jägers erschossen, bevor sie recht auf die Welt gekommen ist. Und der Wanderer steigt aus – aus der Behausung, der Liebe, der Norm, dann überhaupt.
Vor- und Nachbilder
Dass der Wanderer ihr in der Psychiatrie verstorbener Vater ist, hat die Autorin in der Nachbemerkung erklärt. Jossi Wieler hat aber auch die Frauenfiguren im Familienalbum der Jelineks gefunden. Für
ihn ist die Erlkönigin, die so gern die tüchtige Kittelschürzenfrau aus dem Volk spielt, auch die tyrannische Mutter, die die Tochter zur Musikerkarriere drängt und niederknüttelt. Und Schneewittchen ist auch die Autorin zum Zeitpunkt ihrer geistigen Geburt.
Die Erlkönigin Wessely wird von Graham F. Valentine verkörpert. Die Figur ist insofern unweiblich, als sie zur Kaste der Unterdrücker gehört – Jelinek sagt sogar: Kriegsverbrecher. Mit der Weiblichkeit hadert auch Schneewittchen, das sich am Wahren, Guten, Schönen orientieren will. Es wird von männlichem Begehren und stiefmütterlichem Futterneid heruntergezogen.
Beide Figuren agieren – anders als der verbotenermassen «echt» spielende Vater André Jung – im Sinne von Jelineks antimimetischer Dramaturgie in hohem Masse künstlich. Valentine, mit Akzent wie immer, ist mal tuntig, mal echt bemüht. Sylvana Krappatsch als Schneewittchen entwickelt dagegen fast nur motorische Präsenz und variiert den Zombie mit immer neuen, nie gesehenen Bewegungen.
Optisch opulent
Die weiteren Regieeinfälle zu zitieren ist entweder komplett und bodenlos oder fragmentarisch und ungerecht. Da kommen Wind, Stöhnen, Applaus ab Schallplatte, da streckt das tote Kind aus Grimms Märchen sein Ärmchen aus dem Grab, da verstauen sich Figuren selbst in der Kommode und werden bei Bedarf wieder hervorgekramt.
Wieler inszeniert weit mehr als die eigentlichen drei Textsuadas. Fast in jeder Stückminute erscheint irgendwo ein Bild- oder Gedankenzitat aus Jelineks dramentheoretischen Texten. Manche wirken als Orientierungshilfen, andere deuten Seitenthemen an. Wieder andere dienen ganz einfach der Zerstreuung.
Nach über zwei pausenlosen Stunden gabs kräftigen Applaus. Auch die anwesende Autorin klatschte wohlwollend.
swissinfo und Agenturen

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