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Migration, Grenzen, Neutralität: acht Schweizer Standpunkte

Drei Verlage aus der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin haben in ihrer jeweiligen Sprache den Titel “Neue Schweizer Standpunkte” veröffentlicht. In dem Gemeinschaftswerk äussern sich acht Schweizer Autoren und Autorinnen zu sozialpolitischen Fragen, die ihr Land und Europa heute bewegen.

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Dokumentation im Nationalratssaal (grosse Parlamentskammer) – in drei Sprachen. Keystone / Alessandro Della Valle

Lustig und dramatisch ist das Schweizer Gleichgewicht. So sehen es jedenfalls die acht Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin, die zum “Dialog” mit Carl Spitteler (1845-1924) eingeladen wurden. Er ist der einzige Schweizer, der bisher den Literatur-Nobelpreis erhalten hat. Das war 1919.

Hundert Jahre später baten die Verlage Rotpunkt, Zoé und Casagrande, welche die drei Sprachregionen des Landes vertreten, Autorinnen und Autoren, auf die Rede zu reagieren, die Spitteler im Dezember 1914 vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft gehalten hatte. Wie sie Spittelers Rede oder Aspekte davon aufgriffen, blieb den Schreibenden überlassen.

Der Erste Weltkrieg tobte und angesichts der Gewaltexzesse  bekräftigte Spitteler in seiner Rede “Unser Schweizer Standpunkt”Externer Link die Neutralität, die Notwendigkeit zur Brüderlichkeit mit den benachbarten Völkern und natürlich den Frieden. Was ist heute inmitten eines Europas, das sich von Migrationsströmen bedroht sieht und vor dem Problem der Neudefinition seiner Grenzen steht, aus diesen Vorstellungen geworden?

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Die Schweiz kann sich diesen heiklen Fragen nicht entziehen, zu der die Neutralität kommt, mit der die Schweizer und Schweizerinnen tief verbunden sind, und die unter anderen Aspekten von den acht Autorinnen und Autoren thematisiert wurde. Die drei Verlagshäuser vereinten die Texte zu einem Gesamtwerk, das in den drei Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch erschienen ist; in Deutsch unter dem Titel “Neue Schweizer StandpunkteExterner Link. Im Dialog mit Carl Spitteler.” **

Carl Spitteler
Carl Spitteler im Jahr 1904. Akg-images

Die Welt von heute ist weder schwarz noch weiss

Die Idee für das Buch kam von Caroline Coutau, die in Genf die Editions Zoé leitet. “Was uns interessierte, war zu wissen, was Autoren und Autorinnen von heute denken, die natürlich auch in einer mehrsprachigen Schweiz leben, die aber viel multikultureller ist als jene vor hundert Jahren”, erklärt sie gegenüber swissinfo.ch.

“Die Welt von heute ist weder schwarz noch weiss, sondern gemischt, und diese Vermischung ist charakteristisch für die Schweiz”, sagt Coutau. “Sie spiegelt sich übrigens auch in diesem Gemeinschaftswerk, mit sehr unterschiedlichen Aspekten”, die von der Mini-Fiktion zur intimen Erzählung bis hin zur sozialpolitischen Reflexion reichen.

Lachen ist ebenso Teil der Erfahrung wie Ernsthaftigkeit. Der Text von Catherine Lovey etwa, welche die Rede Spittelers gegen den Strich streichelt, ist recht amüsant. So kann man in dem satirisch gefärbten Text lesen: “Unsere wohlwollende Neutralität unterstützt mühelos die Tatsache, dass Mittelsmänner im Solde jeglicher Art von Gesindel sich auf unserem Territorium tummeln und sogar in unseren Bergen frische Luft schnappen, in Friedenszeiten wie auch in turbulenteren Zeiten.”

Loveys Text lässt eine opportunistische Schweiz auftauchen, gepaart mit einer starken sprichwörtlichen Bescheidenheit, welche die Autorin folgendermassen karikiert: “Wir wissen seit langem, dass unsere Stimme nicht gehört wird. Die Weisesten unter uns werden uns nochmals daran erinnern, dass sie nicht tragend sein muss. Irgendeine andere Nation, selbst eine ganz winzige, würde daran Anstoss nehmen, nicht jedoch wir, dank unserem legendär gutmütigen Geist.”

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Das lauernde Tier

Ein Text in einer ganz anderen Tonart ist Dorothee Elmigers Beitrag. In der fiktiven Geschichte der Romanschriftstellerin verschwindet die Schweiz in einer kleinen Lichtung im Herzen eines grossen Waldes, Europa, so vermutet man. Ein Tier lauert, ein Wildschwein in diesem Fall, das alle erschreckt. Befindet es sich innerhalb oder ausserhalb dieser Lichtung, deren Grenzen plötzlich verschwommen erscheinen? Wir werden es nicht wissen. Wir wissen nur, dass diese Schweiz Angst kultiviert. Eine Angst, die lähmt, und die Peter Utz bereits in einem brillanten Essay erwähnte, der 2017 unter dem Titel “Kultivierung der Katastrophe” erschien.

Geografischer Patriotismus

Pascale Kramer und Daniel de Roulet setzen ihrerseits auf persönliche Erfahrungen. Pascale Kramer, die seit 30 Jahren in Paris lebt, bettet ihren Text in die Stunden nach dem Attentat gegen Charlie Hebdo, 2015, ein. Sie tritt in die Fussstapfen von Spitteler, der 1914 das blutige Europa beobachtet und empfohlen hatte, wir sollten uns “beruhigen”.

Das ist es, was Kramer sagt: Beruhigen wir uns angesichts der nationalen Spannungen, die hier durch den Terroranschlag noch verstärkt wurden. “Ich bin von der Neutralität geprägt und kann Frieden nur durch einen in einem Geist der Mässigung geprägten Dialog verstehen”, räumt sie ein. “Unsere direkte Demokratie ermöglicht es, extreme Verhaltensweisen zu mässigen.” Dies sei in Frankreich nicht der Fall, wo gewisse Bürger zu tragischer Gewalt greifen müssten, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.

Etwas weniger Leidenschaft, etwas mehr Vernunft: Dies ist, was Daniel de Roulet im Wesentlichen sagt. Der Autor erzählt die Geschichte seiner eigenen Familie. Auf der einen Seite gab es die Grosseltern mütterlicherseits aus Zürich, auf der anderen Seite die Genfer Grosseltern. Während dem Ersten Weltkrieg, schreibt er, habe sich die Deutschschweiz der einen und die Romandie einer anderen Kriegspartei zugeneigt.

“Als die Berliner Mauer fiel, dachte ich mir: Uff! Schluss mit den Grenzen! Heute muss ich leider sehen, dass man sie wiedererrichten will. Europa, einschliesslich der Schweiz, liegt falsch damit, sich zu verbarrikadieren. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es nur noch geografischen Patriotismus. Damit will ich sagen, die einzigen existierenden Grenzen, an die man sich noch halten kann, ohne Schaden anzurichten, sind Seen, Meere und Berge, weil die Probleme global sind (Migration, Umwelt…)… Niemand wird Ihnen vorwerfen, die Pyrenäen mehr zu lieben als die Alpen”, sagt Daniel de Roulet zum Schluss.

** Titel in Französisch: “Helvétique équilibre”. Dialogues avec le Point de vue suisse du prix Nobel de littérature 1919, Éditions Zoé; in Italienisch: Discorsi sulla sulla neutralità – A cento anni dal Premio Nobel a Carl Spitteler, Edizioni Casagrande

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(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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