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«Politik mit Paukenschlag»

Der Schweizer Regisseur Gilbert Holzgang hofft auf einen Ausstieg aus der Atomenergie. Paola Carega/swissinfo.ch

Der Schweizer Gilbert Holzgang lebt in Braunschweig, nur wenige Kilometer vom einsturzgefährdeten Atommülllager Asse entfernt. Nicht zuletzt darum hofft der Theaterregisseur, dass Deutschland am Atomausstieg bis 2020 festhält.

«Eis, zwöi, drü, vier, füüf.» Berndeutsch zählen geht noch, stellt Gilbert Holzgang zufrieden fest. Alles andere – sprechen, denken und träumen – fällt dem gebürtigen Burgdorfer heute leichter auf Hochdeutsch.

Kein Wunder: Gilbert Holzgang lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Sein langes Berufsleben, zuerst auf, dann hinter der Theaterbühne, hat dazu geführt, dass dem heute 59-Jährigen der Schweizer Zungenschlag abhanden gekommen ist. Seine Wahlheimat heisst Braunschweig in Niedersachsen.

Die aus Touristensicht wenig bekannte Stadt mit rund 250’000 Einwohnern ist ideal für die Projekte des freischaffenden Regisseurs und Leiters des Theaters Zeitraum.

Braunschweig hat eine wechselvolle Geschichte, brachte im Laufe der Jahrhunderte einige bedeutende Persönlichkeiten hervor, etwa den Mathematiker Carl Friedrich Gauss, und war lange Zeit Sitz wichtiger Industriezweige, zum Beispiel der Automobilindustrie.

Holzgang verarbeitet Historie zu dokumentarischen Theaterstücken. Oder anders gesagt: Er stöbert in den Stadtarchiven, spürt spannende Zeitzeugen auf, nutzt alte Briefwechsel und Tagebücher – und bastelt aus dem authentischen Material eine Collage. Das kann ein Bühnenstück sein, ein Vortragsabend oder auch mal ein Hörbuch.

«Asse ist ein Skandal»

Eine Epoche der Geschichte Deutschlands hat es dem Schweizer besonders angetan: Die Weimarer Republik, die Zeit also zwischen Ende des Ersten Weltkrieges und Beginn des Nationalsozialismus.

Holzgang beeindruckt vor allem die für heutige Begriffe sehr fortschrittliche Verfassung jener Zeit. «Leider haben die Nazis Anfang der 30er-Jahre den Reichstag als Quasselbude verhöhnt und damit viele Bürger auf ihre Seite gezogen», sagt der Auslandschweizer. Heute, rund 80 Jahre später, besitze Deutschland glücklicherweise wieder eine vorbildliche Verfassung.

«Deutsche Politik interessiert mich sehr», sagt der Theaterschaffende. Politisiert ist Holzgang nicht zuletzt durch das einsturzgefährdete Atommülllager Asse bei Wolfenbüttel, nur rund zwölf Kilometer von Braunschweig entfernt.

Vor einem Jahr wurde bekannt, dass die Anlage mit radioaktiver Lauge kontaminiert ist. Auch fliesst immer wieder unkontrolliert Wasser ein und Deckenkammern drohen einzustürzen. Wie man heute weiss, hatten Beamte des Bundesbauministeriums 1964 nach nur einer Besichtigung des ehemaligen Salzbergwerks grünes Licht gegeben für die Lagerung von radioaktivem Abfall.

«Das war skandalös, was da gelaufen ist», sagt Holzgang. Der Schweizer hofft, dass Deutschland am geplanten Atomausstieg bis 2020 festhält. Nicht zuletzt aus umweltpolitischen Gründen würde er denn auch die Grünen wählen, wenn er könnte. «Sie beackern diejenigen Themen, die auch mich beschäftigen. Ausserdem ruhen sie sich nicht so auf ihren Pfründen und Ämtern aus.»

Profil und Ruppigkeit

Auch für Angela Merkel hat Holzgang Sympathien übrig. Die Kanzlerin sei glaubwürdig und mache keine Ränkespiele, so sein Eindruck. «Nochmals vier Jahre mit Merkel an der Spitze geht in Ordnung», sagt er. Allerdings nicht zusammen mit der FDP, wie es die Union am liebsten hätte, sondern wieder mit der SPD als Juniorpartner. «Schwarz-Gelb bleibt Deutschland hoffentlich erspart.»

Was die Persönlichkeit betrifft, schätzt Holzgang Politiker mit Profil und «einer gewissen Ruppigkeit». Den früheren SPD-Verteidigungsminister Peter Struck zum Beispiel, der im Bundestag ziemlich barsch auftreten konnte.

Oder Peer Steinbrück: Die verbalen Attacken des Finanzministers gegen die Schweiz als Steueroase in diesem Frühjahr haben dem Berner anders als vielen Schweizern nicht missfallen. «Politik ist ein musikalisches Geschäft. Da braucht es auch mal Dissonanzen oder einen Paukenschlag», sagt Holzgang.

Grundmisstrauen gegen die Mächtigen

Den SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier einzuordnen, fällt ihm dagegen schwer. Unter anderem, weil nicht restlos geklärt sei, so Holzgang, was für eine Rolle der frühere Kanzleramtschef im Fall El Masri gespielt habe.

Tatsächlich wird dem heutigen SPD-Aussenminister bis heute vorgeworfen, die politische und moralische Verantwortung dafür zu tragen, dass die rot-grüne Bundesregierung die Entführung des Deutsch-Afghanen Khaled El Masri durch den CIA im Jahr 2003 stillschweigend duldete.

Auch bei den Verstrickungen des deutschen Geheimdienstes im Irak-Krieg, die ein Untersuchungs-Ausschuss nicht restlos aufklären konnte, spielte Steinmeier eine zentrale Figur. «Ein Grundmisstrauen gegenüber den mächtigsten deutschen Politikern zu haben, ist sicher nicht schlecht», bilanziert Holzgang.

Paola Carega, Berlin, swissinfo.ch

Die Sanierung des Atommülllagers Asse wird Deutschland bis zu vier Milliarden Euro kosten, rechnete Bundesumweltminister Sigmar Gabriel kürzlich vor.

Darüber, wer für diese enormen Kosten aufkommen soll, wird derzeit heftig gestritten.

Von 1967 bis 1978 wurden im ehemaligen Salzbergwerk Asse in Niedersachsen insgesamt 126’000 Fässer mit schwach- und mittelaktivem Atommüll deponiert.

Im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass das Lager mit radioaktiver Lauge verseucht ist und unkontrolliert Wasser einläuft.

Nach Ansicht des Historikers Detlev Möller, der eine Dissertation zur Geschichte der Endlagerung radioaktiver Abfälle veröffentlicht hat, habe man bei der Einrichtung des Endlagers Asse II von vornherein «das Volllaufen der Grube billigend in Kauf genommen».

So hätten alte Unterlagen ergeben, dass das Bergwerk 1965 beim Kauf durch den Bund in einem sehr schlechten Zustand gewesen sei. «Man hat die Probleme sowohl vor Ort als auch im Ministerium in Bonn sehr klar gesehen – und die Asse trotzdem zum Endlager gemacht. Das ist der Kern des Skandals», sagte Möller gegenüber dem Magazin Spiegel.

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