
Schweizer Blog macht Furore in Paris

Schweizer Journalisten führten während den Aufständen in den französischen Banlieues 2005 den Bondy Blog ein, in dem das Leben in den ärmeren Vorstädten geschildert wird. Der Blog ist inzwischen ein mediales Phänomen geworden.
Jetzt eröffnen die Blogger von Bondy eine Filiale in einem der nobelsten Vororte von Paris: den Neuilly Bondy Blog.
«Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden. Wer sind Sie?»
«Es geht um den neuen Blog, der über Neuilly und seine Bewohner berichtet. Ich würde gerne ein Interview mit Ihnen machen.»
Blaise Hofmann reicht dem erstaunten Gegenüber ein kleines Stück Papier, eine Visitenkarte, die auf die Schnelle ausgedruckt wurde. «Neuilly Bondy Blog» ist darauf zu lesen.
Blaise Hofmann ist Professor in Lausanne und einer der Gründer des Bondy Blogs, wo er als Journalist tätig ist.
Der neue Blog aus dem noblen Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine wurde mit einem Augenzwinkern auf den Bondy Blog ins Leben gerufen, der aus dem ärmeren Vorort Bondy berichtet.
Der Blog lebt vor allem von Begegnungen: da ist beispielsweise die spanische Hausmeisterin, die erzählt, dass hier ein Concierge bis zu 3000 Euro bezahlt, um den Job zu erhalten.
Oder die zwei Jugendlichen, die zwei Mal pro Woche vor dem schicksten Lycée von Neuilly warten und die Schüler um zwei Euro «anbetteln». «Die Schüler haben häufig Angst und zahlen. Hier verdient man leicht 20 Euro pro Tag», erzählen sie dem Journalisten.
McDonald’s als Büro
Neuilly ist Neuland für Hofmann. «Es geht nicht darum, ob man aus einem Pariser Vorort oder aus der Schweiz kommt», sagt er. «Was es braucht, ist ein offener Blick auf die Welt.»
Auf der Suche nach Geschichten spaziert Hofmann mit seinem Laptop täglich durch Neuilly. Büro hat er keines: Da seine Vermieter in Neuilly ihm nicht erlaubten, ihren drahtlosen Netzzugang zu benützen, arbeitet er im McDonald’s. Dort hat er Zugang zum Internet.
Bürgermeister Sarkozy
Dass der Blog, der im tristen Vorort Bondy entstanden ist, nun auch aus Neuilly berichtet, ist alles andere als naheliegend: Es ist, als würde sich das Frankreich der Armen im Frankreich der Wohlhabenden breit machen.
Neuilly wird häufig als «Ghetto der Reichen» beschrieben, als Ort der Schönen und Mächtigen. Neuilly ist eine der reichsten Gemeinden Frankreichs – und auch jene mit den wenigsten Sozialwohnungen des Landes. Neuilly ist der Wohnort des arrivierten Bürgertums: Hier wohnen Manager, Stars und Anwälte.
Die Jugendlichen in den Strassen von Neuilly tragen Kleider im Wert von tausenden Euros auf dem Leib. «Es gibt den Neuilly-Look: im Moment sind es teure Jeans und Handtaschen», sagt die 16-jährige Amerikanerin Jessica Di Benigno, die seit zwei Jahren in Neuilly lebt.
Bürgermeister des noblen Pariser Vororts war während über 20 Jahren der heutige Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Und er schien beliebt gewesen zu sein: Bei den Präsidentschaftswahlen 2007 wurde Neuilly zu seiner Wahlhochburg.
Auch Vorurteile
«Anhand von Neuilly wollen wir ein Frankreich zeigen, das langsam am Einschlafen ist», sagt Nordine Nabili, Chefredaktor des Bondy-Blogs.
«Doch wir wollen auch zeigen, dass nicht alle hier reich sind: Es gibt die Angestellten des McDonald’s oder die Frauen, die früh aufstehen müssen, um Putzen zu gehen.»
Denn auch Neuilly leidet – unter anderen Vorzeichen als die finanzschwächeren Vorstädte – unter Vorurteilen. Die Stadt erscheint in den Medien nur in zwei Rubriken: Leute und Politik.
«Die Pariser, die noch nie in Bondy oder noch ärmeren Vorstädten waren, haben auch noch nie einen Fuss nach Neuilly gesetzt», erklärt Blaise Hofmann.
Gut gemeinter Spott
Daher verzeichnet der Neuilly Blog bereits nach einigen Wochen rund 500 Besuche pro Tag, eine gute Zahl für einen neuen Blog.
Und die Bewohnerinnen und Bewohner von Neuilly-sur-Seine, die sich nie für den Bondy Blog interessiert haben, begrüssen es, dass über ihre Stadt gesprochen wird, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen.
«Neuilly ist ein wichtiger Kontrapunkt zu Bondy», erinnert sich Serge Michel, einer der Schweizer Journalisten beim Bondy Blog.
«Seit Februar 2006 haben wir die ersten acht Blogger ausgebildet. Wir haben uns damals vorgestellt, einmal Sonderberichterstatter nach Paris zu schicken, um sich auf eine gute Art lustig zu machen über die Sonderberichterstatter der grossen Medienhäuser, die mit ihren Reportergilets und Caterpillar-Schuhen in den Banlieues herumgestapft sind.»
Schweigsame Bewohner
Bloggen in Neuilly scheint aber schwieriger zu sein als in Bondy. Blaise Hofmann wartet in einem leeren Gang des Hauses der Ausländervereinigungen. Er soll in einer Viertelstunde den Präsidenten der Portugiesen-Vereinigung treffen, «sofern er mich nicht vergessen hat, wie die andern».
Hofmann präzisiert: «Die Leute hier sind sehr liebenswürdig. Wenn man sie interviewen will, sagen sie fast immer zu. Aber nachher ruft die Sekretärin an und sagt das Interview ab, das sei keine gute Idee, ihr Chef sei bekannt in Neuilly.»
Und wenn die Leser sich über den Blog beklagen und sagen, er lasse nur unzufriedene Bewohner zu Wort kommen, entschuldigt er sich: «Die ursprünglichen Bewohner Neuillys sind schwierig zu erreichen; ich sehe nur Neuankömmlinge. Jene, die schon lange da sind, haben keine Lust, über ihr tägliches Leben zu sprechen. Sie wollen Diskretion über ihr Privatleben, Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen.»
Ein ersten Kontakt zwischen der verdorbenen und der goldenen Banlieue konnte indessen erstellt werden: Idir Hocini, der Bondy-Blogger, der die Arbeit von Blaise Hofmann übernimmt, suchte ein Zimmer vor Ort. In wenigen Tagen fand er eines. Dank eines Inserates «Suche Zimmer in Neuilly» im Blog.
swissinfo, Miyuki Droz Aaramaki
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)
Der Bondy Blog entstand im November 2005. Damals berichteten Journalisten des Westschweizer Magazins «L’Hebdo» täglich aus dem Pariser Vorort Bondy (Seine-St-Denis), wo die Jugendkrawalle in den Banlieues begannen.
Drei Monate später übergaben die «Hebdo»-Journalisten das Zepter einer Gruppe junger Reporter und Blogger aus Bondy. Unterstützt wurden sie von Betreuern aus dem Quartier.
Während der französischen Präsidentenwahl-Kampagne 2007 verzeichnete der Bondy Blog von allen politischen Blogs in Frankreich am drittmeisten Besucher (durchschnittlich 200’000 pro Monat).
Finanziert wird der Bondy Blog durch verschiedene Partnerschaften, zurzeit mit der Online-Ausgabe der französischen Gratiszeitung «20 Minutes» zusammen.
Im Januar 2008 hat der Bondy Blog zwei neue Blogs eröffnet, einer berichtet aus dem Pariser Vorort Neuilly, der andere aus Marseille.
Neuilly-sur-Seine ist ein wohlhabender Vorort im Westen von Paris und zählt rund 60’000 Einwohner. Es ist eine der reichsten Gemeinden Frankreichs, hier sind rund 20% der Einwohner der Vermögenssteuer unterworfen (im Landesdurchschnitt beläuft sich dieser Anteil auf rund 1,3%).
In Neuilly-sur-Seine kostet der Quadratmeter Boden durchschnittlich 6552 Euro, so viel wie nirgends sonst in der Region Ile-de-France.
Die Einwohner von Neuilly gelten als konservativ. Zwischen 1983 und 2002 war Nicolas Sarkozy Bürgermeister in diesem noblen Pariser Vorort. In der zweiten Tour der Präsidenschaftswahlen 2007 gaben 87% der Einwohner von Neuilly Sarkozy ihre Stimme.
Neuilly ist der Wohnort der Arrivierten: Charles Baudelaire, Bernhard-Henri Lévy, Albert Cohen – die Liste von Persönlichkeiten, die in Neuilly wohnen oder gewohnt haben, ist lang.

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