
Dammbruch beim Frühfranzösisch: Driftet nun die Schweiz auseinander?

Das Zürcher Kantonsparlament will Frühfranzösisch aus der Primarschule verbannen. Das befeuert einen Streit um schulische Leistungen und regionale Befindlichkeiten. Steht der Zusammenhalt der Schweiz auf dem Spiel?
«C’est parce qu’ils ne se comprennent pas que les Suisses s’entendent bien.»
Jean Pascal Delamuraz, Bundesrat 1983 – 1998
Die Schweiz bezeichnet sich gerne als Willensnation. Sie ist ein heterogenes Gefüge, vereint aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Um das zusammenzuhalten, braucht es Willen.
Also Anstrengungen, wie: Man nimmt Rücksicht auf die Minderheiten. Man organisiert sich mehrsprachig, kommuniziert mehrsprachig. Und Kinder lernen schon in der Primarschule eine andere Landessprache.
Jetzt will Zürich auf das Frühfranzösisch verzichten, da die Anstrengungen zum Ertrag nicht im Verhältnis stünden. Dieser Entscheid des Zürcher Kantonsparlaments kratzt an einem etablierten Schweizer Selbstverständnis.
Wer ist für Bildung in der Schweiz verantwortlich?
«Man rüttelt an unserem Fundament», sagt Christophe Darbellay, Erziehungsdirektor des Kantons Wallis zu SRF. «Damit steht der nationale Zusammenhalt auf dem Spiel. Wie wollen wir zusammenleben, wenn wir nicht in der Lage sind, eine gemeinsame Sprache zu sprechen?»
Der Walliser Mitte-Politiker präsidiert auch die Konferenz der Erziehungsdirektor:innen aller Kantone, die mächtige EDK, welche in der Schweiz über das Bildungswesen wacht.
Denn eigentlich ist Bildungspolitik in der Schweiz Sache der Kantone, und jeder dürfte seine Prioritäten selbst setzen. Doch seit 2006 nimmt der Bund die 26 Kantone in die Pflicht.
Sie müssen ihre Grundbildung vereinheitlichen, so steht es in der Verfassung. Also rauften sich die Kantone in der EDK zusammen, um mehr Übersicht und Berechenbarkeit in den Schweizer Bildungsbereich zu bringen.

Warum ist der Zürcher Entscheid ein Signal?
Das Projekt heisst «HarmoS». Dass Französisch in der Primarschule unterrichtet wird, ist ein Bestandteil davon und in der SprachenstrategieExterner Link festgehalten. Diese besagt, dass in der Primarschule zwei Fremdsprachen unterrichtet werden, eine ab der dritten und eine ab der fünften Klasse.
Wenn Zürich nun kein Frühfranzösisch mehr will, betrifft das alle. Denn damit müsste der Kanton auch das HarmoS-Konkordat verlassen. Das wäre eine schwere Belastungsprobe für den mühsam ausgehandelten Kompromiss zwischen den Kantonen.
Hinzu kommt, dass ausgerechnet der dominierende Kanton der Deutschschweiz nun die Abkehr vom Frühfranzösisch sucht. Dass Kleinkantone wie Uri oder Appenzell Innerhoden das Frühfranzösisch nie eingeführt haben – es wurde in föderalistischer Grosszügigkeit hingenommen. Wenn aber Zürich austritt, dann rumort es im Röstigraben.
Bricht also alles zusammen, was jahrelang harmonisiert wurde?
Kann der Bund das Frühfranzösisch befehlen?
Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider befürchtet es. Sie wertet den Schritt als «beunruhigendes Signal» und überlegt sich, wie sich das SprachengesetzExterner Link erweitern liesse.
Das wäre ein alternativer Weg, um die Kantone darauf zu verpflichten, ihren Primarschüler:innen eine jeweils andere Landessprache beizubringen. Gleichzeitig wäre es aber ein Eingriff des Bundes in ein Hoheitsgebiet der Kantone – ein föderaler Sündenfall.
Der Kanton Appenzell Ausserhoden hat sich bereits vor Zürich vom Frühfranzösisch verabschiedet. Neben Zürich gibt es entsprechende Bestrebungen in zehn weiteren Kantonen, darunter beide Basel sowie Thurgau und St. Gallen.
Darauf angesprochen, dass immer mehr Deutschschweizer Kantone das Frühfranzösisch beenden könnten, sagte Bundesrätin Baume Schneider im Juni im Nationalrat: «Ich denke, dass der Bundesrat in diesem Fall eingreifen müsste.»
Was sagen die Befürwortenden?
Das ist, was sich SP-Nationalrätin Valérie Piller Carrard wünscht. Sie befürchtet, dass der Entscheid von Zürich einen Dammbruch auslösen könnte. «Eine ganze Reihe deutschsprachiger Kantone ist auf dem Absprung. Das gefährdet unsere Vielfalt und unseren Zusammenhalt», sagt sie.
Im Parlament hat sie soeben eine InterpellationExterner Link eingereicht, um beim Bund Alarm zu schlagen. «Ich bin seit 14 Jahren im Parlament in Bern, und ich sehe auch hier, wie die Sprachkompetenz schwindet», sagt die Politikerin aus Freiburg. «Wenn man den anderen nicht mehr versteht, wird es noch schwieriger, Kompromisse zu finden.»
Wie argumentiert die Gegnerschaft?
Ihre Ratskollegin Katja Christ hält das Argument des nationalen Zusammenhalts jedoch für wenig zielführend. Die grünliberale Bildungspolitikerin aus Basel fragt: «Hat je jemand ans Tessin gedacht?» Und sie antwortet: «Unser Verhältnis zum Tessin müsste in dieser Logik ja komplett zerrüttet sein.»
Sie fügt hinzu: «Die Gegnerschaft des Frühfranzösisch hatte nie zum Ziel, Französisch zu schwächen, sondern im Gegenteil, das Französisch zu stärken.» Es gehe um bessere Resultate am Ende der obligatorischen Schulzeit, denn früh heisse nicht zugleich besser, das hätten StudienExterner Link gezeigt.
Christ kämpft seit JahrenExterner Link gegen das Frühfranzösisch, aus pädagogischen Überlegungen und gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse. In ihrem Kanton bedeutet Frühfranzösisch: Unterricht ab der 3. Klasse mit eigens für diese frühe Stufe entwickelten Lehrmitteln, welche auf dem Konzept Immersion beruhen.
Die dafür vorgesehenen zwei bis drei Wochenstunden erfüllten jedoch bereits die Anforderungen des Konzepts nicht. «Gleichzeitig leidet der Kernbereich Rechnen darunter, und die Kulturtechniken Lesen und Schreiben sind noch nicht einmal in Deutsch genügend ausgebildet», sagt sie.
Warum steht Frühfranzösisch im Fokus?
Christ spricht aus, was viele beobachten. Die Grundschule erreiche ihre Ziele nicht mehr. Der Lehrplan sei mit 470 Seiten, 363 Kompetenzen, und 2304 Kompetenzstufen überladen, bemängeln Kritiker:innenExterner Link.
Sie berufen sich dabei auf Studien. Eine schweizweite ErhebungExterner Link kam kürzlich zum Schluss: 18% der Schweizer Schulabgänger:innen können einfachste Texte in ihrer Muttersprache nicht lesen. Und nur 11% der Unterstufenschüler:innen in schwachen Klassen erreichen beim Französischsprechen überhaupt das Grundniveau, also die niedrigste Stufe.
Das ist ein schlechtes Zeugnis, auch für die pädagogischen Ansätze, den Schülerinnen und Schülern die Fremdsprache auf eine neue Art beizubringen – in spielerisch-immersiven Sprachbädern, die parallel zur Harmonisierung mit viel Aufwand entwickelt wurden.
«Diese Reform war vielleicht gut gemeint, aber sie ist gescheitert», sagt Bildungspolitikerin Katja Christ. «Die Immersion findet nicht statt, also bleiben auch die Erfolge aus.»

Macht Fremdsprachenunterricht vor der 5. Klasse überhaupt Sinn?
Man spricht in der Schweiz nicht überall vom Gleichen, wenn es um Frühfranzösisch geht. Manche Kantone starten mit Französisch ab der 3. Klasse, andere ab der 5. Klasse. Doch ob eine Sprache in der 3. oder in der 5. Klasse unterrichtet wird, macht aus pädagogischer Sicht einen markanten Unterschied.
Kinder in der 3. Klasse sind in der Schweiz typischerweise 9 Jahre alt und damit von ihren Voraussetzungen her nicht in der Lage, eine Sprache von ihrem grammatikalischen Aufbau her zu erlernen. Sie lernen «kindlich» immersiv, also durch Eintauchen in die Sprache.
Kritiker:innen bemängeln, dass in der Volksschule für diese Art von Lernen aber der Rahmen fehlt: Für messbare Lerneffekte müsste die Hälfte des Unterrichts in der Zielsprache stattfinden.
Ab der 5. Klasse ist es hingegen möglich, eine Sprache strukturiert zu erlernen, mit Wortschatz, Grammatik und aufbauenden Sequenzen.
Der Angriff auf das Frühfranzösisch ist nur eine der aktuell in der Schweiz diskutierten Massnahmen, um Bildungsdefizite in der Grundschule zu beheben.
Auch Handyverbote in der Schule gewinnen an Popularität, oder die Idee, die sogenannte «integrative Schule» wieder aufzugeben, die keinen Unterschied zwischen stärkeren und leistungsschwachen Kindern macht.
Doch weil das Französisch bei Evaluationen weit unter den Erwartungen lag, steht es überall im Fokus.
In welche Richtung gehen die Lösungen?
«Die aktuellen Resultate sind zu ernüchternd, um nichts zu machen», sagt auch Martina Bircher, Erziehungsdirektorin im Kanton Aargau und Mitglied der SVP, in der NZZ.
Sie rechnet vor: Ein Aargauer Schüler habe nach der obligatorischen Schule 585 Lektionen Französisch absolviert. Das koste pro Schüler 155’000 Franken. Aber: «Nur 7% der Realschüler erreichen die Grundkompetenzen. 93% verstehen kein einfaches Sätzlein auf Französisch.»
Doch gerade dieses Argument verfängt bei SP-Nationalrätin Valérie Piller Carrard nicht. «Man sagt, man erreiche die Ziele nicht. Aber erreicht man die Ziele mit weniger Unterricht dann besser?»
Und noch etwas fällt ihr auf: Den Gegner:innen gehe es nicht um das Frühfranzösisch – sondern um das Französisch. Den frühen Englisch-Unterricht stelle niemand in Frage, obwohl auch dieser den Lehrplan belaste. «Man gab Englisch den Vorzug – und wundert sich nun, warum Französisch auf der Strecke bleibt.»

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Das weist auf einen Punkt hin, der in alle Überlegungen einfliesst: Was nützt die Sprache dem Kind? In den Kantonen der Romandie ist Deutsch in der Grundschule auch deshalb wenig umstritten, weil der Nutzen auf der Hand liegt. Auch wenn Deutsch bei Kindern in der Romandie nicht besonders beliebt ist, es ist die dominierende Landessprache, die später die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern wird.
Vielen in der Deutschschweiz aber scheint Englisch nützlicher – zugänglicher ohnehin. Damit erwächst der Landessprache Französisch starke Konkurrenz durch eine invasive Sprache, deren Ausbreitung besonders in der Romandie mit einiger Skepsis betrachtet wird.
Doch laut Piller Carrard hätte die Schweiz die Mittel und Möglichkeiten, den Französisch-Unterricht attraktiver zu gestalten, etwa durch Schüleraustauschprogramme und Sprachaufenthalte.
Weitere Ideen, die auch in der EDK diskutiert werden, sind Online-Diskussionen, Videokonferenzen und Ferienlager. Es brauche mehr echte Begegnungen zwischen den Landesteilen. Mehr Reisen über den Röstigraben.
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Editiert von Samuel Jaberg

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