Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Wer Italienisch spricht, hat in der Verwaltung das Nachsehen

Schreibkarten in drei Landessprachen im Nationalratssaal
Theoretisch können alle Angestellten der Bundesverwaltung entscheiden, in welcher Amtssprache sie arbeiten möchten - Deutsch, Französisch und Italienisch. Die Realität sieht anders aus. Keystone / Alessandro Della Valle

In der Schweizer Bundesverwaltung werden Angestellte aus der lateinischen Schweiz benachteiligt. Am stärksten betroffen sind jene italienischer Sprache, während Deutschsprachige privilegiert sind. Das dokumentiert ein neues Buch.

In offiziellen Reden wird gerne verkündet, die Schweizer Bundesverwaltung sei ein “Spiegel” der sprachlichen Zusammensetzung des Landes. Die Realität ist allerdings eine andere. Vielmehr handelt es sich um ein Zerrbild der vier nationalen Sprachgemeinschaften.

Der Gebrauch der vier Amtssprachen in den Bundesbehörden und im Umgang mit der Verwaltung ist im SprachengesetzExterner Link geregelt. Demnach können die Angestellten der Bundesverwaltung entweder auf Deutsch, Französisch oder Italienisch arbeiten. Bundesvorschriften, Gesetze und Dokumentationen müssen in allen drei Sprachen gleichzeitig veröffentlicht werden. Besonders wichtige Texte und Dokumente im Zusammenhang mit eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen werden auch auf Rätoromanisch veröffentlicht.

Die SprachverordnungExterner Link legt unter anderem fest, was eine angemessene Vertretung der Sprachgemeinschaften in der Bundesverwaltung ist. Dafür definiert die Verordnung prozentuale Bandbreiten, die anzustreben seien, damit die vier Landessprachen in der Bundesverwaltung im Verhältnis zu ihrer zahlenmässigen Stärke im Land vertreten sind – “namentlich auch in den Kaderfunktionen”.

Eine Untersuchung des Zentrums für Demokratie Aarau hat ergeben, dass Deutschsprachige in Führungspositionen und in zwei Dritteln der Verwaltungseinheiten (45 von 67) überrepräsentiert sind. Die Analyse zeigt auch, dass 60% der rund 35’000 Bundesangestellten in einer Einheit arbeiten, in der die lateinischen Sprachen unterrepräsentiert sind. Diese Erkenntnisse und andere Studien auf diesem Gebiet fanden Eingang in dem kürzlich erschienenen Buch “Les langues du pouvoir”Externer Link (Die Sprachen der Macht).

Karte
Kai Reusser / swissinfo.ch

Im Widerspruch zum Gesetz

Dieses Ungleichgewicht steht nicht nur im Widerspruch zu den gesetzlichen Bestimmungen über die Vertretung der vier Landessprachen. Es verstärkt auch ein weiteres Ungleichgewicht: dass intern vorwiegend Deutsch kommuniziert wird, während Italienisch marginalisiert wird.

80% der Erlasse der Verwaltung wurden ursprünglich auf Deutsch verfasst, fast 19% auf Französisch. Ausserdem versteht nur eine Minderheit der deutsch- und französischsprachigen Angestellten Italienisch. Italienisch kommt deshalb fast ausschliesslich bei Übersetzungen und in der externen Kommunikation zum Zuge, erklärt Emilienne KobeltExterner Link, Mitautorin des Buches.

Zwar gibt es theoretisch eine gesetzliche Garantie dafür, dass auch Italienischsprachige in ihrer Sprache arbeiten können. In der Realität bleibt ihnen das allerdings weitgehend verwehrt. Von ihnen wird im Allgemeinen erwartet, dass sie über Deutsch- und Französischkenntnisse verfügen, wobei sie mindestens eine der beiden Sprachen aktiv und die andere passiv beherrschen sollten, stellte Kobelt fest. Von Deutsch- und Französischsprachigen hingegen wird in der Regel nur eine zweite Sprache erwartet.

Diese Ungleichbehandlung wird von der Mehrheit der Bundesangestellten aber nicht als solche wahrgenommen. Weil nur 8% der Schweizer Bevölkerung italienischsprachig sind, herrscht die Meinung vor, es wäre unverhältnismässig, das gleiche Niveau an Italienischkenntnissen zu verlangen wie an Deutsch- und Französischkenntnissen. Immerhin sind Deutsch und Französisch die Hauptsprachen von 62% respektive fast 23% der Bevölkerung. Folglich wird es als normal angesehen, dass italienisch sprechende Angestellte sich besonders anstrengen müssen.

Ein Teufelskreis

Ausgangspunkt der Ungleichheit ist der Einstellungsprozess. Dort beginnt das, was die Autoren des Buches als Teufelskreis bezeichnen. Sie stellten fest, dass Verantwortliche eher Kandidatinnen und Kandidaten ihrer eigenen Sprache einstellen. Für diese haben sie eine grössere Affinität – allein deshalb, weil die gremeinsame Hauptsprache die Kommunikation erleichtert. Dass überproportional häufig Deutschsprachige über Einstellungen entscheiden, kommt also deutschsprachigen Bewerberinnen und Bewerbern zugute, deren Kenntnisse in der zweiten und eventuell dritten Amtssprache im Auswahlverfahren zudem kaum geprüft werden. So dominiert Deutsch auch weiterhin die Amtsstuben.

Diese Dynamik sei keinesfalls beabsichtigt, betonen die Forschenden. Sie hänge auch damit zusammen, dass sich die meisten Personalverantwortlichen auf die fachlichen Fähigkeiten konzentrieren. Die Sprachkenntnisse würden in der Regel nicht als primäres Kriterium erachtet, solange sie nicht für die Stelle erforderlich seien.

Die Buchautoren weisen aber auch darauf hin, dass es seit dem Inkrafttreten des Sprachengesetzes und der Sprachenverordnung im Jahr 2010 Fortschritte gegeben hat – obwohl die Mehrsprachigkeitsziele der Bundesverwaltung noch nicht erreicht seien. Für die Zukunft sind sie optimistisch: “Der Ausbruch aus dem Teufelskreis ist möglich”, schreiben sie, weisen aber auch darauf hin, dass dies “eine langfristige Aufgabe” sei.

Auch die Kantone müssen handeln

Nach Ansicht der Buchautoren sind zwei Faktoren entscheidend für den Erfolg. Einerseits müssten die Personalverantwortlichen und die Führungskräfte für die Bedeutung der Dreisprachigkeit als Pluspunkt für eine moderne Verwaltung sensibilisiert werden.

Andererseits sei es unabdingbar, dass mehr Mitarbeitende Minderheitensprachen erlernten. Nur so hätten insbesondere die italienischsprachigen Angestellten tatsächlich die freie Wahl bei der Arbeitssprache. Die Bundesverwaltung biete dem Personal die Möglichkeit, Sprachkenntnisse zu erwerben und zu perfektionieren. Trotzdem sei es wichtig, die Landessprachen bereits in den Schulen zu fördern, betont Emilienne Kobelt. Hier seien auch die Kantone gefragt.

Kanada macht es nicht besser

Andere mehrsprachige Länder sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Schweiz. Kobelt hat etwa im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms “Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz” (NFP 56Externer Link) an einer Feldstudie in Kanada teilgenommen.

Die Schweiz tauscht sich regelmässig international aus, um Best Practice zu identifizieren. Eine nützliche Strategie, aber kein Allheilmittel. Weil internationale Vergleiche schwierig anzustellen und komplex seien, gebe es in diesem Bereich keine systematischen Vergleichsstudien zwischen Ländern, erklärt Kobelt. Jedes Land habe seine eigenen Besonderheiten, seine eigene Geschichte und seinen eigenen institutionellen Kontext. “Was in einem Land gut ist für die Förderung der Mehrsprachigkeit in der öffentlichen Verwaltung, muss in einem anderen Land nicht unbedingt funktionieren.” Und: “Es ist auch nicht sicher, dass das, was auf dem Papier gut klingt, in der Realität gut funktioniert”, fügt Kobelt hinzu.

Das Beispiel Kanada zeigt, dass bei Vergleichen Vorsicht geboten ist. Im nordamerikanischen Land funktioniere die Sprachförderung nicht wirklich besser, sagt Kobelt – und das trotz umfangreicher Vorgaben und weitaus grösserer Ressourcen als in der Schweiz. “Im Alltag ist es so, dass, sobald eine englischsprachige Person an einem Meeting teilnimmt, die Konversation komplett auf Englisch stattfindet. In der kanadischen Verwaltung schien Englisch noch dominanter zu sein als Deutsch bei uns in der Schweiz”, so die Forscherin.

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Übertragung aus dem Italienischen: Mischa Stünzi

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