
Die Schweiz übernimmt den OSZE-Vorsitz und steht vor der Frage: Hat die Organisation noch einen Sinn?

Die russische Invasion in der Ukraine ist eine von mehreren Herausforderungen für die OSZE. 2026 übernimmt die Schweiz den Vorsitz. Die Erwartungen sind hoch – auch seitens Russlands.
Was ist die OSZE?
Kurz gesagt: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist ein Forum für Dialog und die grösste regionale Sicherheitsorganisation der Welt.
Als grösste Stärke wie Schwäche der OSZE gilt das Konsensprinzip: Alle müssen zustimmen oder zumindest auf ein Veto verzichten, damit ein Entscheid zustande kommt.
Die 57 Teilnehmerstaaten decken einen Grossteil der nördlichen Hemisphäre ab, darunter nebst Europa auch Nordamerika und Zentralasien.
Wie ist die OSZE entstanden?
Die OSZE besteht seit dem 1. Januar 1995, also seit 30 Jahren, damals löste sie ihre Vorgängerorganisation, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ab.
Deren Ursprünge reichen zurück in die Zeit des Kalten Krieges: Am 1. August 1975 einigten sich 33 europäische Staaten zusammen mit den USA und Kanada in Helsinki auf die Achtung der staatlichen Souveränität, der Grenzen und Menschenrechte. Der Text zu den Grundprinzipien war zuvor zwei Jahre lang in Genf verhandelt worden.
Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa erlebte am 9. November 1989 den Fall der Berliner Mauer. Innerhalb der Organisation führte dieses historische Ereignis zur Ausarbeitung der Pariser Charta für ein neues Europa im Jahr 1990 – mit der Hoffnung, dass die Blockkonfrontation beendet sei.
Eines der grundlegenden Versprechen der Pariser Charta war der Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten als «erste Verantwortung der Regierungen». Ebenso wurde festgehalten, dass die Demokratie das einzige mögliche Regierungssystem für die Teilnehmerstaaten sei.
Mehr zu den Ursprüngen der OSZE und zur Rolle der Schweiz zwischen den Blöcken finden Sie in diesem Artikel:

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Welche Institutionen gehören zur OSZE?
Am 1. Januar 1995 wandelten die Teilnehmerstaaten die bisherige Organisation in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) um. Mit der Umbenennung richteten sie ein Generalsekretariat ein, dessen Leiter für drei Jahre gewählt wird, sowie einen Ständigen Rat mit Delegierten in Wien.
Die OSZEExterner Link verstärkte zugleich ihre institutionelle Struktur: Sie gründete eine Parlamentarische Versammlung mit 323 Abgeordneten, deren Sekretariat in Kopenhagen angesiedelt ist, und ein Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) in Warschau. Weitere zentrale Organe sind der Vertreter für Medienfreiheit in Wien und der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten in Den Haag.
Wo ist die OSZE tätig?
Der Grossteil des Personals und der Ressourcen der OSZE wird für Feldoperationen in Südosteuropa, Osteuropa, dem Südkaukasus und Zentralasien eingesetzt. Die Mandate werden von den Teilnehmerstaaten auf Konsensbasis vereinbart.
Die OSZE widmet sich der Lösung langanhaltender Konflikte in der Region, zum Beispiel in Transnistrien oder Bergkarabach.
In Zusammenarbeit mit der UNO und der Europäischen Union ist sie Mitvorsitzende der Internationalen Genfer Gespräche, die nach dem Konflikt in Georgien im August 2008 ins Leben gerufen wurden.
Als besonders bedeutend gilt die von der OSZE entsandte Sonderbeobachtungsmission in der Ukraine.
Befindet sich die OSZE in einer Krise?
Ja, in einer beispiellosen Krise. Zu diesem Schluss kommen viele Beobachtende. Zum Beispiel der Sicherheitsanalyst Alexander Graef, der dazu im März 2025 ein Policy Brief Externer Linkpubliziert hat.
Graef schreibt darin: «Russland und Belarus haben zentrale Normen der Schlussakte von Helsinki von 1975 eklatant verletzt und damit die Rolle der OSZE schwer beschädigt. Auch wenn die OSZE keine Lösungen erzwingen kann, bleibt sie eine potenziell wichtige Plattform für den Dialog.»
Die russische Invasion in der Ukraine ist dabei nur ein Aspekt. Der andere sind Blockaden durch Russland und Belarus innerhalb der Organisation.
So wurden zentrale Entscheidungen wie die Verabschiedung des Haushalts, die Verlängerung von Feldmissionen oder sogar die Ernennung vor Vorsitzstaaten systematisch untergraben.
Laut einer StudieExterner Link, die im Oktober 2023 in Global Studies Quarterly veröffentlicht wurde, leidet die OSZE unter einer Legitimationskrise, die sie an den Rand der Bedeutungslosigkeit gebracht hat.
Die Ursachen erkennt die Studie in den institutionellen Schwächen und divergierenden Interessen der Teilnehmerstaaten.
Der frühere Generalsekretär der OSZE Thomas Greminger kommt in einem Meinungsbeitrag für Swissinfo gar zum Schluss: «Die OSZE spielt keine Rolle im Konfliktmanagement in der Ukraine und ist vom politischen Radar der Schlüsselakteure der euroatlantischen Sicherheit verschwunden.»

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Was bedeutet die Krise der OSZE?
José Ángel López Jiménez, Koordinator für Völkerrecht und internationale Beziehungen an der Päpstlichen Universität Comillas, sieht die Herausforderungen der OSZE im breiteren Kontext einer globalen «Weltunordnungsstruktur».
Der Übergang zu einem multipolaren System habe eine Krise des Multilateralismus und Regionalismus ausgelöst, die sich sowohl auf die UNO als auch auf regionale Akteure wie die OSZE auswirke. «Dieser Kontext hat sich seit der Gründung der OSZE 1995 erheblich verändert», betont er.
Obwohl López JiménezExterner Link die OSZE in der Vergangenheit kritisierte – etwa im Fall Transnistrien – anerkennt er die grundlegende Rolle der Organisation beim Konflikt dort, aber auch bei den Konflikten in Südossetien und Bergkarabach.
Die Organisation stösst jedoch zunehmend an Grenzen: Ähnlich wie die UNO, deren wichtigste Organe wie der Sicherheitsrat oft blockiert sind, fällt es der OSZE schwer, ihre Aufgaben kohärent zu erfüllen.
«Es handelt sich nicht nur um ein Problem der OSZE, sondern um ein generelles Defizit im internationalen System, das auf die Krise des Multilateralismus und des Regionalismus zurückzuführen ist», erklärt López Jiménez.
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Hat die OSZE noch einen Nutzen?
«Gerade in einer Zeit der Neubildung von Blöcken, wie wir sie derzeit erleben, ist es wichtig, dass ein Format wie dieses weiterlebt, genutzt und sichtbar gemacht wird», erklärt Lucas RenaudExterner Link, Experte für Schweizer und euroatlantische Sicherheit am Center for Security Studies der ETH Zürich.
José Ángel López hebt die Arbeit der OSZE in den Bereichen Grenzüberwachung, Bekämpfung des Menschenhandels, Terrorismusbekämpfung und Überwachung von Waffenstillstandsvereinbarungen hervor: «Es gibt sehr wichtige Aspekte.»
Alexander Graef findet, die Überwindung der Blockade verlange entschlossene politische Führung und Diplomatie auf mehreren Ebenen: «Die Lehren aus der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) während des Kalten Krieges zeigen, dass informelle Initiativen – insbesondere von neutralen Staaten – helfen können, Blockaden zu überwinden.»
Was ist vom Schweizer OSZE-Vorsitz 2026 zu erwarten?
Lucas Renaud sagt, ganz wesentlich für die Schweiz sei, klar darauf hinzuweisen, dass Russland die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki verletzt habe.
Hingegen rät er davon ab, Russland auszuschliessen. Gerade in Zeiten der Krise, des Krieges und der Polarisierung sei es wichtig, diesen Verhandlungskanal offen zu halten.
«Was aber nicht sein darf, ist, dass Verhandlungen von Russland lediglich als Feigenblatt für seine Hinhaltetaktik verwendet werden, ohne ernsthaft an Ergebnissen interessiert zu sein», so Renaud.
Auch dann nicht, wenn, wie Renaud findet, «die Unterschiede sehr gross sind und der Handlungsspielraum einer Organisation wie der OSZE begrenzt ist».
«Den schwierigen Partner» in der OSZE zu halten, sei eine kluge Taktik, so José Ángel López an. Dabei vergisst er nicht, dass Russland nur darum der Schweiz den Vorsitz zugestanden hat, «um die eigene Isolation gegenüber den westlichen Ländern zu durchbrechen».
López lässt auch die USA, «den anderen Partner», nicht unerwähnt, der den Friedensnobelpreis anstrebt und das Resultat der ganzen Arbeit der OSZE in Bergkarabach für sich verbuchen will.
«Aus solchen Gründen ist es entscheidend, dass die OSZE ihre Kommunikation verbessert und ihre Bemühungen sichtbar macht – und dass sie nun mit der Schweiz die Bühne des internationalen Genfs nutzt, um ihre Handlungsfähigkeit zu stärken», so López.

López findet, die Situation sei gefährlich und erinnere ihn an die Zwischenkriegszeit: «Entweder besinnen wir uns wieder auf Vernunft und kehren zu Kooperationsmodellen zurück – oder das kantianische Ideal einer internationalen Gesellschaft wird in die Luft gesprengt, und wir alle werden verlieren.»
Editiert von Marc Leutenegger/bvw

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