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Trotz Corona schlägt die Stunde des E-Collecting nicht

Unterschriften sammeln
Funktioniert in Zeiten von Corona und Social Distancing kaum mehr: Die Unterschriftensammlung an belebten Hotspots in den Städten. E-Collecting wäre technisch bereit, aber politisch ist es aktuell keine Option. Keystone

Die Corona-Pandemie lastet schwer auf den Demokratien. Aber ohne Unterschriftensammlung auf der Strasse sind viele Bürgerbegehren blockiert. Das lenkt den Blick auf digitale Alternativen.

Das Corona-Virus hat die Welt auf den Kopf gestellt.

Was heisst das für die Prozesse einer Demokratie? Eine Vermutung liegt nahe: Das digitale Sammeln von Unterschriften für Initiativen, Referenden und Petitionen könnten zum Gebot der Stunde werden.

Gerade jetzt, da auf Strassen und an Anlässen nicht mehr gesammelt werden kann, müssten sich diese Alternativen eigentlich durchsetzen. Tun Sie es? Nein. Die erwartete Dynamik bleibt aus.

Das mag erstaunen, zumal sich die digitalen Sammel-Tools seit über zehn Jahren in der Praxis bewähren: Seit 2007 haben die Branchenleader Avaaz.orgExterner Link und Change.orgExterner Link Millionen Nutzer auf sich vereint, die auf den beiden Plattformen Online-Kampagnen unterschreiben.

Und doch haben bisher erst wenige Länder Erfahrungen mit E-Collecting gesammelt. Dazu zählen Österreich, Finnland, die Niederlande, Lettland, Dänemark sowie einzelne Bundesstaaten der USA – und mit Abstrichen die Schweiz.

Kampagnen-Tool für Petitionen

Auffällig ist: Die digitale Unterschriftensammlung wird vorwiegend für unverbindliche Bürgerbegehren genutzt, also für Petitionen. Je verbindlicher ein Volksbegehren – Initiativen oder Referenden – umso eher kommt die traditionelle, analoge Unterschriftensammlung zum Einsatz.

Diese Gleichung vermag auch Covid-19 nicht auf den Kopf zu stellen.

In den USA aber hat die Corona-Pandemie Bewegung in die Sache gebracht: Als erste Bundesstaaten gaben MassachusettsExterner Link und OhioExterner Link im Mai grünes Licht für die elektronische UnterschriftExterner Link für Volksinitiativen, sagt Evan Ravitz. Er ist Gründer von Strengthen Direct DemocracyExterner Link, einer Plattform, die Volksrechte in der US-Verfassung verankern möchte.

Auch in den Bundesstaaten Arkansas, Montana, Arizona, Colorado und Oklahoma haben Initiativkomitees E-Collecting gefordert.

Eine Spezialität kennt der Bundesstaat Arizona. Dort können die Bürger Personen, die für ein öffentliches Amt kandidieren wollen, online unterstützenExterner Link, damit sie es auf den Wahlzettel schaffen.

“Alle hier wissen, dass Online-Unterschriftensammlungen im Vergleich zu solchen mit persönlichem Kontakt sicher sind”, sagt Ravitz in Bezug auf die Risiken einer Virusübertragung. Selbst Politiker, die ursprünglich gegen E-Collecting waren, würden dies nun befürworten.

E-Collecting ist auch in Asien ein Thema: In Taiwan ist die Einführung für die Unterschriftensammlung für Volksinitiativen gesetzlich vorgesehen. Allerdings ist der Schritt aus Furcht vor Manipulationen seitens China bis heute nicht erfolgt.

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Volksinitiativen in Europa und der Schweiz – gleiches Instrument, verschiedene Wirkung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Es wurde im Rahmen der Europäischen Verfassungsdebatten nach der Jahrtausendwende als Grundrecht im sogenannten Lissabonner Vertrag verankert, gut 120 Jahre, nachdem die Schweiz auf Bundesebene das Volksinitiativrecht eingeführt hatte. In beiden Fällen gingen der Einführung handfeste gesellschaftliche Konflikte voraus, die den Zusammenhalt der politischen Gemeinschaft in Frage stellten: In der Schweiz ging es in den…

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Die eigentliche Hochburg ist Europa. Grösster Hebel ist hier die Europäische Bürgerinitiative (EBI) der Europäischen Union. Eine solche kommt zustande, wenn eine Million Unionsbürgerinnen und -bürger aus mindestens sieben EU-Staaten binnen zwölf Monaten eine Forderung unterschreiben – digital.

Seit 2012 wurden 73 EU-weite Begehren lanciert. Aktuell läuft die Sammlung für 11 Initiativen. Die Mehrzahl scheitert allerdings im Sammelstadium. Erst vier Begehren hat die EU-Kommission beantwortet, also formal “angenommen”. 14 Mal lehnte die EU-Regierung eine gültige EBI ab.

Der bekannteste Fall betrifft “Stopp TTIP”: Das Begehren gegen das transatlantische Freihandelsabkommen mit den USA wurde von 3,3 Millionen Unionsbürgern unterzeichnet – ein Rekord. Trotzdem wies es die EU-Kommission 2014 zurück. 2017 kassierte der Europäische Gerichtshof diesen Entscheid.

In Brüssel findet vom 16. bis 20. November 2020 die Woche der Europäischen BürgerinitiativeExterner Link statt. Ziel ist die Stärkung des wichtigsten direktdemokratischen Instruments in der EU.

Verhängnisvolles Brexit-Plebiszit

Die EBI ist für die EU-Kommission aber nicht bindend. Die EU-Spitze tut sich bis heute sehr schwer damit, ihren EU-Bürgern direktdemokratische Instrumente anzuvertrauen.

“Das Brexit-Plebiszit hat in Brüssel das allgemeine Misstrauen gestärkt – man fürchtet, mit Volksabstimmungen schlafende Hunde zu wecken”, sagt Xavier DutoitExterner Link. Der Schweizer Spezialist für Open Data entwickelt seit über zehn Jahren Tools für demokratische Online-Kampagnen. Sein Unternehmen “Fix the Status Quo”Externer Link ist in Tallinn, Estland, stationiert, einem Hotspot der Digitalisierung.

Dutoits Plattform ist neben jener der EU das einzige zertifizierte System zur Online-Unterschriftensammlung für eine EBI. Bisher haben neun Europäischen Bürgerinitiativen auf Dutoits digitale Sammelplattform abgestellt.

Aus in der Schweiz

Die EBI ist für die EU-Kommission aber nicht bindend. Die EU-Spitze tut sich bis heute sehr schwer damit, den Unionsbürgern direktdemokratische Instrumente anzuvertrauen.

“Das Brexit-Plebiszit hat in Brüssel das allgemeine Misstrauen gestärkt – man fürchtet, mit Volksabstimmungen schlafende Hunde zu wecken”, sagt Xavier DutoitExterner Link. Der Schweizer Open-Data-Spezialist entwickelt seit über zehn Jahren Tools für demokratische Online-Kampagnen. Sein Unternehmen “Fix the Status Quo”Externer Link ist in Tallinn, Estland, stationiert, einem Hotspot der Digitalisierung.

Dutoits Plattform ist neben jener der EU das einzige zertifizierte System zur Online-Unterschriftensammlung für eine EBI. Bisher hat er für neun EBI gearbeitet. Aus in der Schweiz

Eine Sonderstellung nimmt die Schweiz ein. Einerseits, weil sie über die stärkste direkte Demokratie auf Landesebene verfügt. Andererseits, weil E-Collecting bis vor kurzem auch Bestandteil des Regierungsprogramms “Vote électronique” war. Dessen Ziel ist die Einführung von E-Voting als offiziellem Stimmkanal Nummer drei in der Schweiz.

Doch 2017 erteilte die Bundeskanzlei der digitalen Unterschriftensammlung eine Absage. Sehr zum Leidwesen von Daniel Graf, der 2016 die Plattform WecollectExterner Link gegründet hatte. Komitees können Wecollect heute lediglich zur “semi-digitalen” Unterschriftensammlung für ihre Volksinitiativen und Referenden nutzen. Halb-digital deshalb, weil die Sympathisanten ihren persönlichen Unterschriftenbogen ausdrucken, unterschreiben und per Post zurücksenden.

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“Die Weichenstellung erfolgte bereits 2002, als der Bundesrat entschied, E-Voting gegenüber E-Collecting zu priorisieren. Daran hält er leider bis heute fest”, bedauert Graf. Inzwischen hat er seine Plattform in die Stiftung für direkte DemokratieExterner Link überführt.

Jetzt erst recht

Im StiftungsratExterner Link sitzt auch Sophie Fürst. Sie ist überzeugt, dass die Corona-Pandemie klar aufzeige, dass die Demokratie in der Schweiz das E-Collecting brauche. “Das Sammeln von Unterschriften lebt vom direkten Kontakt mit Menschen, was zurzeit erschwert ist. Unterschriftensammlungen sind in den letzten Monaten unsicherer, aufwendiger und teurer geworden”, argumentiert Fürst.

Aufgrund des Lockdowns und der einschränkenden Massnahmen seien Initiativen und Referenden abgebrochen worden oder stünden kurz vor dem Aus. Prominentes Opfer war etwa die Volksinitiative für ein Moratorium von E-Voting: Das breit abgestützte Komitee hat die Unterschriftensammlung im Juni nach dem Lockdown abgebrochen.

In den fünf Jahren seit der Gründung hat Wecollect zeigen können, dass ein Bedürfnis besteht: Bisher wurden mit dem Tool knapp 520’000 halb-digitale Unterschriften für insgesamt 37 Begehren gesammelt.

Auch Xavier Dutoit, der Entwickler mit digitaler Heimat Tallinn, würde E-Collecting in der Schweiz begrüssen. Vorteile sieht er ausserhalb der Pandemie auch in tieferen Kosten für die Komitees. Zudem könnten sich die Akteurinnen und Sympathisanten in der Kampagne zu einer neu entstehenden Gemeinschaft zusammenfinden.

Hype statt Politik?

Zugleich hegt Dutoit aber auch Bedenken. Die Schweiz könnte “Offline-Verbindungen” einbüssen – eine unbestrittene Stärke ihrer direkten Demokratie. Und E-Collecting könnte dem “Slacktivismus” Vorschub leisten. Darunter versteht man eher flüchtige, weniger verbindliche Engagements ohne tiefere innere Überzeugungen für einen politischen Wandel.

Zudem stellt Dutoit die Vertrauensfrage: E-Collecting könnte auch Misstrauen in den Prozess und damit in das Ergebnis säen. “Jeder versteht das Stift-Papier-System. Aber wie viele verstehen die Verschlüsselungs-Algorithmen, welche die Vertraulichkeit und Integrität der Unterschriften im Netz garantieren? Und wenn man den Prozess nicht verstehen kann, wie kann man dann dem Ergebnis trauen?”

Dennoch steht für Dutoit fest, dass die Schweiz sich hervorragend eigne, um mit E-Collecting zu experimentieren und es weiter zu entwickeln. “Aber es braucht Zeit und Übung, um das Vertrauen aller Bürger zu gewinnen.”

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