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«Mengele-Mörgele»: ein Verlust an Liberalität

Geschützte Räume: Voraussetzung der Konkordanz-Demokratie. swissinfo.ch

Hat der Bundespräsident absichtlich Nationalrat Mörgeli mit dem SS-Arzt Mengele verglichen, oder hat sich Pascal Couchepin schlicht versprochen? Diese Frage beschäftigt seit Tagen die Öffentlichkeit.

Für den Soziologen Kurt Imhof ist die Affäre ein Beispiel dafür, wie sich die Medien von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei instrumentalisieren lassen.

Die Fakten: Parlamentarische Kommissionen tagen hinter verschlossenen Türen. Die Sitzungen und das Protokoll sind geheim.

Das gilt auch für die Wissenschafts-Kommission, die Anfang Februar über Forschung am Menschen diskutiert. Dennoch sickern Details an die Öffentlichkeit: Bundespräsident Pascal Couchepin plädiert an der Sitzung für eine klare Gesetzgebung, sonst könne es zu Szenen kommen wie im Dritten Reich, als ein SS-Arzt sein Unwesen getrieben habe.

Da passiert «es»: Der freisinnige Romand Couchepin sagt sinngemäss, zuerst sei ihm der Name «Mörgele» in den Sinn gekommen, es handle sich aber um Doktor Mengele.

Christoph Mörgeli, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP), hatte die Sitzung bereits verlassen.

«Die Südostschweiz» veröffentlicht die Episode. Das Blatt stützt seinen Artikel auf Aussagen von Parlamentariern der SVP und der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP).

Am gleichen Tag bringt die Tagesschau des Schweizer Fernsehens ein Interview mit Christoph Mörgeli. Dieser zeigt sich vor der Kulisse des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald empört. Dabei spricht er von einer «ungeheuerlichen Verharmlosung des Holocausts». Couchepin sei für die Eidgenossenschaft nicht mehr tragbar.

Der Bundespräsident verteidigt sich: Er habe keinen Scherz machen und Mörgeli nicht attackieren wollen. Es handle sich um einen Versprecher.

Eine dankbare Episode für die Medien, findet der Soziologe Kurt Imhof, Leiter des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich.

swissinfo: Mangelt es den Medien an Themen, oder steckt mehr dahinter?

Kurt Imhof: Es ist nicht nur ein Medienrummel. Es ist ein Beispiel dafür, wie leicht man die Medien instrumentalisieren kann. Diese liessen sich von Mörgeli und der SVP beliebig instrumentalisieren und zwar auch die Öffentlich- Rechtlichen mit dem Interview vor dem KZ Buchenwald.

Der zweite Aspekt ist, dass der zum Konkordanz-System gehörende geschützte Rahmen einer Kommissionssitzung unter den Bedingungen einer opponierenden SVP nicht mehr möglich ist.

Das ist bedenklich, weil sich Politik auch im Rahmen von Sitzungen abspielen muss, bei denen Informationen eben nicht nach aussen geraten.

Wenn alles öffentlich ist, gibt es Sieger und Verlierer. Konkordanz-Demokratie braucht Räume der Zurückgezogenheit.

swissinfo: Wollte Couchepin wirklich einen Seitenhieb auf Mörgeli lancieren, der nicht zu seinen politischen Freunden gehört?

K.I.: Man muss einem Vollblutpolitiker wie Couchepin zutrauen – und das ist die Seifenblase der ganzen Geschichte – , dass er den KZ-Arzt und Massenmörder Mengele nicht mit Nationalrat Mörgeli, seines Zeichens Historiker, gleichsetzt. Mörgeli hat mit Mengele nichts gemeinsam.

Man muss einem Menschen mit französischer Muttersprache auch zubilligen, dass solche Versprecher vorkommen können.

Die These der gezielten Provokation stellen die Medien, die SVP und der rechte Flügel des Freisinns her.

swissinfo: Die SVP schafft es regelmässig, die Medienagenda zu besetzen. Sind ihre Methoden reines Marketing, oder gibt es tatsächlich Parallelen zu totalitären Parteien?

K.I.: Man muss der Partei die Attribute bürgerlich und liberal absprechen. Sie hat im Umgang mit abweichenden Positionen in der Partei selbst ihre Liberalität verloren.

Zudem kann sie das Attribut bürgerlich nicht mehr sinnvoll aufrecht erhalten vor dem Hintergrund ihrer Ausschaffungsinitiative, welche die Sippenhaft 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wieder einführen will.

swissinfo: Couchepin hat sich entschuldigt. Reicht das, um die Ruhe wieder herzustellen?

K.I.: Es ist eine taktische Entschuldigung. Er wurde ganz offensichtlich von seiner Partei dazu gezwungen. Die FDP ist zerrissen und hat Angst, weitere Wähler zu verlieren.

Dieselben Leute, die den Duce-Vergleich nicht goutiert haben, haben ihn jetzt gedrängt, sich zu entschuldigen, um Luft aus der Affäre zu nehmen und so wieder einen Vorteil zu haben vor der Instrumentierungs-Strategie der SVP.

swissinfo: Die Geschichte wirft in der Romandie weniger hohe Wellen als in der Deutschschweiz. Wieso?

K.I.: Das Liberalismus-Verständnis ist in der Romandie tiefer verankert. Das freie Wort und auch geschützte Räume haben einen höheren Stellenwert. In der deutschen Schweiz hat die politische Kultur schon lange Schaden genommen.

swissinfo-Interview, Andreas Keiser

Am 7. September 2007, kurz vor den Parlamentswahlen, hatte der freisinnige Bundesrat Pascal Couchepin die Schweizerische Volkspartei (SVP) scharf kritisiert.

Die von ihr verbreitete Komplott-Theorie gegen Justizminister Christoph Blocher sei «Propaganda im negativsten Sinne des Wortes».

«Niemand, auch nicht der ‚Duce‘, ist unverzichtbar für das Wohlergehen unseres Landes. Das ist ungesund», sagte Couchepin in einem Interview des Tessiner Radios RSI.

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