Schweizer WM-Bilanz: Jetzt müssen Top-Stürmer her

Mangelnde Stürmerqualitäten und ein Glück, das sich nicht erzwingen liess sind laut Eishockey-Experte Klaus Zaugg die Gründe für das Aus der Schweiz an der Heim-WM. Für Spieler und Klubs sei konsequentes Arbeiten angesagt.
Im Sport kann der Grat zwischen Erfolg und Misserfolg brutal schmal sein. 13 läppische Sekunden waren es, die der Schweiz als Gastgeber der Eishockey-WM zum Einzug in das Viertelfinale fehlten.
Der Schweizer Hockey-Experte Klaus Zaugg analysiert den verunglückten WM-Auftritt der Heimmannschaft.
swissinfo: Wie sah Ihre Gefühlslage nach dem nutzlosen 4:3-Sieg in der Overtime gegen die USA aus?
Klaus Zaugg: Es war das beste Spiel der Schweiz am WM-Turnier. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sie am Tag zuvor beim 1:4 gegen Schweden ihren schwächsten Auftritt hatte. Die Schweiz hat den Beweis erbracht, dass sie als Team lebt und reagieren kann. Das ist ein gutes Zeugnis für den Trainer.
Das nutzlose 4:3 hat mich aber geärgert, weil Martin Gerber, seines Zeichens NHL-Torhüter mit einem Jahresgehalt von 3,7 Mio. Dollar, drei haltbare Treffer kassierte. Eine Mannschaft kann das beste Eishockey zeigen, aber wenn ihr Torhüter nicht mindestens 90% der Schüsse hält, ist sie auf diesem Niveau chancenlos.
swissinfo: Wie fällt Ihre Analyse des Schweizer Auftritts am WM-Turnier aus?
K.Z.: Trainer Ralph Krueger wurde das Opfer der hohen Erwartungen. Bei seiner ersten WM 1998, ebenfalls in der Schweiz, kam, sah und siegte er. Damals erreichte die Schweiz mit lediglich zwei Siegen den vierten Platz. Beim 1:5 gegen die USA war sein Team chancenlos gewesen.
Jetzt, elf Jahre später, haben wir drei Spiele gewonnen und die USA besiegt, aber es reicht nicht für einen Platz unter den besten acht. Das heisst, dass Krueger das Team weiterentwickelte, damit aber auch grosse Erwartungen weckte.
Diese Erwartungen hat er erst im ersten Spiel gegen Frankreich im ausverkauften Stadion gespürt. Seine Stärken – Lockerheit, Optimismus, Charisma – hat er dabei teilweise verloren.
Er wurde zum gewöhnlichen Coach, der einzelne Spieler zu stark forcierte. Er wollte für seine Spieler unbedingt den Erfolg. Der lässt sich aber nicht mit der Brechstange erzwingen.
swissinfo: Die Niederlage gegen die Letten war vorentscheidend. Wie konnte es geschehen, dass die Schweizer gegen diesen inferioren Gegner nicht parat waren?
K.Z.: Ich muss korrigieren: Die Letten waren kein inferiorer Gegner, und die Schweizer war sehr wohl parat. Sonst bringen sie nicht 40 Schüsse auf das lettische Tor.
Die Letten haben so gespielt und gesiegt, wie wir schon oft gegen Grosse gespielt und gesiegt haben. 2000 in St. Petersburg beim 3:2-Sieg gegen die Russen lautete das Torschuss-Verhältnis 12 zu 45 zugunsten Russlands, aber wir haben gesiegt.
Wer auf ein Tor spielt, läuft sehr oft Gefahr, keinen Treffer zu erzielen. Im Eishockey fallen 71% der Goals nach schnellen Gegenangriffen und nicht nach langen Druckphasen. Dies zeigte eine Studie der Universität Prag, in der Daten aus mehreren Jahren ausgewertet worden waren.
swissinfo: Ausschlaggebend für das Verpassen des Viertelfinals war die mangelnde Effizienz, sprich die Kaltblütigkeit im Abschluss. Was muss hier im Hinblick auf Vancouver 2010 geschehen?
K.Z.: Man muss konsequent weiter Arbeiten. Das taktische Konzept stimmt. Aber wir haben bei den Stürmern ein Defizit an Kraft und Durchsetzungsvermögen.
In der NHL, der besten Liga der Welt, haben wir Torhüter und Verteidiger, aber keine Stürmer. Uns fehlen «Game breaker», also Stürmer, die einen Match offensiv entscheiden können.
Der letzte Schritt zur Weltklasse ist ein sehr langer Prozess, der aus Krafttraining, Lauftraining und Feilen an der Schusstechnik besteht. Oder Rabotat›, rabotat›, rabotat›, also Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten, wie der legendäre russische Trainer Viktor Tichonow zu sagen pflegte (der übrigens als rüstiger 80-Jähriger auch an der WM in Bern weilt, die Red.).
swissinfo: Coach Ralph Krueger hat Mark Streit mit enormen Einsatzzeiten forciert. Konnte der NHL-Star so der Mannschaft das Maximum bringen?
K.Z.: Nein. Offensiv hätte er wahrscheinlich mehr gebracht, wenn er Eiszeiten von 15 bis 20 Minuten erhalten hätte statt 30 bis 35 Minuten. Hinterher sieht man, dass der Trainer seine Trumpfkarte zu oft ausspielte.
swissinfo: Wieso hat mit Ausnahme von Streit kein Schweizer die Gelegenheit beim Schopf gepackt, sich auf der WM-Plattform ins internationale Rampenlicht zu spielen?
K.Z.: Wie schon angesprochen können sich die Schweizer Stürmer auf diesem Niveau immer noch nicht richtig durchsetzen. Ich sage zwar, dass die Stürmer unter ihrem Wert gespielt haben, aber im Schnitt erlebten wir an dieser WM ungefähr die Qualität der Schweizer Angreifer.
swissinfo: Ralph Krueger hat nach dem Ausscheiden selbstkritisch gesagt, dass er seinen Job nicht gut genug gemacht habe. Was hätte er besser machen müssen?
K.Z.: Als genialer Kommunikator weiss Krueger, dass es sich nach einem Misserfolg gehört, Schuld auf sich zu nehmen. Ich sehe aber keine gravierenden Fehler, das Aufgebot der Spieler war ok. Vielleicht hat er zuviel gewollt, aber das kann man nicht als Fehler bezeichnen. Aber er war erstmals in seiner Trainerkarriere glücklos.
swissinfo: Es gibt Gerüchte, wonach Kruegers Nachfolger Slawa Bykow heissen soll.
K.Z.: Diese Lösung ist nicht sehr realistisch, denn Bykow hat einen Umgang mit den Spielern, der in der Schweiz wahrscheinlich nicht funktionieren würde.
Zwar ist er sehr gut integriert, spricht fliessend französisch und hat den Schweizer Pass. Aber wir Schweizer haben einen besonderen Umgang mit Autoritäten: Vorgesetzte müssen überzeugen, und die Untergebenen hinterfragen deren Position.
Bykow kommt aus einer Welt, wo dies ausgeschlossen ist. Man kann in der Schweiz weder Fussball- noch Eishockeyspieler so führen, wie dies in Deutschland, Nordamerika oder Russland möglich ist.
Die logische und vernünftige Variante wäre, wenn auf Krueger ein Trainer folgt, der das Schweizer Eishockey sehr gut kennt. Sean Simpson steht zuoberst auf der Wunschliste. Sein Vertrag als Coach der Zürcher Lions endet ebenfalls Ende Saison 2010.
Renat Künzi, swissinfo.ch
Die Eishockey-WM 2009 mit den besten 16 Nationalteams findet bis am 10. Mai im Hauptaustragungsort Bern und in Kloten statt.
Von den 56 Partien finden 32 in der PostFinance-Arena in Bern statt (inkl. alle Finalspiele), 24 Spiele in der Arena Zürich-Kloten.
Favorisiert sind Titelveteidiger Russland und Kanada.
Die Schweiz ist trotz eines 4:3-Sieges gegen die USA nach der Zwischenrunde ausgeschieden. Weil die Entscheidung nach 13 Sekunden in der Nachspielzeit fiel, wurde der Sieg nur mit zwei Punkten belohnt.
Für das Erreichen des Viertelfinales hätte das WM-Heimteam aber in der regulären Spielzeit siegen müssen, was drei Zähler ergeben hätte.
Die Organisatoren unter Präsident Gian Gilli erwarten rund 300’000 Fans.
Die PostFinance-Arena in Bern fasst an der WM 11’500 Zuschauer, die Arena Zurich-Kloten 6700.
In den beiden WM-Stadien sind 1100 freiwillige Helfer im Einsatz.
Das Gesamtbudget der Organisatoren beläuft sich auf 31 Mio. Franken.
Für den Grossanlass haben sich rund 800 Journalisten akkreditiert.
Die 56 Spiele werden von 190 TV-Stationen in über 100 Länder übertragen.
Gesamthaft verfolgen 800 Millionen Zuschauer die WM am Fernsehen.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch