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Spieglein, Spieglein an der Wand: Publikum als Versuchskollektiv

Keystone-SDA

Nachahmung ist das Mass aller Dinge: Für die künstlerische Umsetzung des neurowissenschaftliches Phänomens der Spiegelneuronen hat sich Dokumentartheaterspezialist Stefan Kaegi von Rimini Protokoll mit der Choreografin Sasha Waltz zusammengetan.

(Keystone-SDA) Wann gab es das je? Ein Vorhang in der Reithalle der Kaserne Basel verdeckt das Dahinter. Aber wenn er sich öffnet, wird man sich gewahr, dass es das Dahinter nicht gibt. Die rund 400 Zuschauerinnen und Zuschauer auf der ausverkauften Tribüne blicken auf eine Spiegelwand, also auf sich selbst.

Und sie blicken auf alle anderen auf der Tribüne. Einer beginnt sich an der Stirn zu kratzen, eine andere streift sich die Haare aus dem Gesicht. Es ist das, was man vielleicht selber machen wollte, aber von allen beobachtet vielleicht nicht zu tun getraut. Bis andere die Gesten nachahmen und man sich selber vom anwachsenden Juckreiz erlöst.

Es geht um «Spiegelneurosen», wie der Titel besagt. Damit ist ein neurowissenschaftliches Phänomen angesprochen, das die Menschen unbewusst dazu bringt, Aktionen des Gegenüber zu imitieren. Ein Lächeln, ein Gähnen kann anstecken, das ist bekannt. Aber wie weit geht dies?

Bewegungsmuster animiert

Das eben will das Dokumentartanztheater mit dem Publikum als Versuchsgruppe ergründen. Tanztheater deshalb, weil sich auf der Zuschauertribüne verteilt Tänzerinnen und Tänzer der renommierten Truppe Sasha Walz & Guest befinden, die als Animatorinnen und Animatoren weiter reichender Gestik- und Bewegungsmuster dienen sollen.

Zum hypnotischen Sound von Tobias Koch und unterstützt durch Audio-Einspielungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beginnt sich das Publikum tatsächlich zum Bewegungskörper zu entwickeln – mit einigen stoisch unbewegten und deswegen im Spiegelbild umso auffälligeren Einzelmasken, während andere sich deutlich über einen angedachten Spiegelneuronen-Effekt hinaus gebärden.

Auf das Gemeinschaftserlebnis gesetzt

Dass sich der unbewusste Nachahmungseffekt allein nicht zur abendfüllenden Performance durchhalten lässt, scheinen sich auch die Verantwortlichen des Projekts bewusst gewesen zu sein. Deswegen setzen sie auf das Gemeinschaftserlebnis mit einem Kindergeburtstagsspiel mit Ballonen, einer kollektiven Tanzanimation und zum Abschluss mit einer Karaoke-Choreinlage zum Radiohead-Hit «Creep» – ein Song über die Scheu, einer begehrten Person gegenüberzutreten.

Zum Schluss wähnt man sich eher in einem Animationsprogramm eines Ferienclubs als in einem Dokumentartheater-Experiment über ein neurowissenschaftliches Phänomen. Wie in Gesprächen nach der Premiere zu erfahren war, fühlten sich einige Zuschauerinnen und Zuschauer nicht spiegelneuronisch angeregt, sondern haben mitgemacht, um nicht als Spielverderber im Spiegel erkannt zu werden – was ja auch etwas Spass bereiten kann.

«Spiegelneuronen» von Stefan Kaegi und Sahsha Waltz & Guest ist am Samstag noch einmal in der Kaserne Basel zu erleben und wird vom 27. bis 30. November in Théâtre Vidi in Lausanne zu sehen sein.

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