
Anastasia Mityukova fotografiert die Stille der Schweizer Neutralität

Während der Bieler Fototage im Mai präsentierte die schweizerisch-russische Künstlerin Anastasia Mityukova die erste Phase ihres Fotoprojekts «Quiet Neutrality». Das Werk ist mehr als eine blosse Fotoserie: Es ist eine kritische Untersuchung, in der eine präzise Frage durchscheint: Wie «neutral» ist die Schweizer Neutralität wirklich?
Wie ist ein Haushaltsüberschuss von 1,3 Milliarden Franken möglich? Diese Frage stellte sich Anastasia Mityukova, als sie eine Nachricht über den Kanton GenfExterner Link las.
Das Fotoprojekt «Stille Neutralität» geht auf diese auf den ersten Blick marginale Tatsache zurück: ein Haushaltsüberschuss im Kanton Genf während des Ukraine-Kriegs.

«Ich verstand nicht viel von Finanzen. Finanzangelegenheiten waren nicht meine Stärke. Aber nach und nach begann ich zu recherchieren. Beim Durchsuchen der Nachrichten fand ich etwa fünfzig Artikel und begann, die Namen von Unternehmen, Banken und Trusts herauszufinden, die mit Russland und seinen Oligarchen in Verbindung stehen», sagt die Fotografin.
«Ich wusste beispielsweise nicht, dass die Mediterranean Shipping Company (MSC), eine Schifffahrtsgesellschaft, die auch Rohstoffe transportiert, ihren Sitz in Genf hat. Auch war mir nicht bewusst, wie viel Eigentum an russische Oligarchen verkauft wurde.»
Es sei jedoch daran erinnert, dass die MSC zu Beginn des Konflikts mit der Ukraine mit sofortiger Wirkung erklärt hat, keine Container mehr zu transportieren, die aus Russland stammen oder für Russland bestimmt sindExterner Link.
Kurz gesagt identifiziert die Fotografin Unternehmen, Immobilien und Interessen, die mit russischen Oligarchen in Verbindung stehen und mit dem Schweizer Wirtschaftsgefüge verknüpft sind.
«Ich wollte niemanden anklagen, sondern durch die Fotografie lediglich mögliche Zusammenhänge aufzeigen. Obwohl die Schweiz formell neutral ist, ist sie Teil eines globalen Macht- und Finanzsystems», sagt Mityukova.

Der «unsichtbare Luxus»
Der Titel «Quiet Neutrality» spielt mit der Idee des «Quiet Luxury», eines diskreten Luxus ohne auffällige Logos, der dennoch ein Zeichen von Macht und Zugehörigkeit ist.
So wie unsichtbarer Luxus ein Symbol der «Elite» ist, kann laut der Künstlerin auch die Schweizer Neutralität ein Privileg oder eine Komplizenschaft verbergen: die eines Landes, das zwar offiziell neutral bleibt, aber wirtschaftlich von Konflikten profitiert.
Eine Neutralität, die also Gefahr läuft, nicht nur diskret, sondern auch stillschweigend mitschuldig zu sein. Mityukova sagt, sie habe nur sehr wenige Texte gefunden, die sich mit der Schweizer Neutralität befassen.
Die Diskretion zeigt sich auch in den für die Bilddarstellung gewählten Farben: Weiss, Rot und Schwarz sind nicht zufällig gewählt: Einerseits erinnern sie an die Schweizer Flagge, andererseits an die Farben der sowjetischen Propaganda.
In den Bildern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Kapitalismus durch Männer mit Zylinder dargestellt, welche die Massen niedertrampelten.
Mityukova fragt: «Was wäre, wenn diese Kapitalisten heute genau jene Oligarchen wären, die den Kapitalismus einst kritisierten?”

Fotografien des Unsichtbaren
Ein zentraler Punkt des Projekts ist die Herausforderung, das Unsichtbare zu fotografieren. Finanzbüros, Hauptsitze multinationaler Konzerne, Kulturstiftungen mit undurchsichtigen Geldgebern – das sind anonyme, geschützte oder absichtlich diskrete Orte.
«Mit Hilfe der Fotografie über Finanzen und Macht zu sprechen, ist schwierig», räumt Mityukova ein. «Es gibt keine offensichtlichen Bilder, und der Zugang ist begrenzt.»
Aber in dieser Herausforderung liegt die Stärke ihrer Sprache: Scheinbar banale Bilder – Gebäude, Schaufenster, Strassen, Schilder – erhalten eine andere Bedeutung, wenn sie von Kommentaren, Landkarten und Anmerkungen begleitet werden, die ungeahnte Zusammenhänge aufzeigen.

Die Fotografin wählte rund 60 Orte in der ganzen Schweiz aus. «Zunächst habe ich mich auf drei Städte konzentriert. Die erste ist Zürich, das mit den Banken verbunden ist. Ich fotografierte die UBS und beobachtete die vielen Luxusautos und Autos ohne Nummernschilder, die dort verkehrten», erzählt sie.
Dann ging sie nach Zug: «Dort leben mehrere Oligarchen. Ich habe russische Mütter fotografiert, die vor den öffentlichen Schulen auf ihre Kinder warteten. Die Stadt ist fast leer, man sieht viele Kindermädchen. Die Firmen konzentrieren sich entlang einer Strasse, dann beginnt sofort die Landschaft, gleich neben dem Hauptsitz von Glencore. Ich finde es bezeichnend, dass sich fast alle Geschäfte mit Autoverkauf befassen, während viele Büros leerstehen.»

Die vorerst letzte Station war Genf: «Eine Gegend, die ich gut kenne. So konnte ich die gegenseitige Abhängigkeit zwischen kulturellen Einrichtungen wie dem Grand Théâtre in Genf und den russischen OligarchenExterner Link festhalten.»
Beispielsweise ist die Beziehung zwischen dem von Wirtschaftssanktionen betroffenen Guennadi Timtschenko und dem Genfer Theater bis 2022 bekanntExterner Link.
Die Ausstellung in Biel zeigte Fotografien dieser Orte und verwob sie mit Texten. Von all diesen Fotos hebt Mityukova eines hervor: «Ein schwarzes Auto mit ukrainischen Nummernschildern, das an einem Gebäude mit verspiegeltem Glas vorbeifährt – doch das reflektierte Bild des Autos ist weiss.»
Die Beschreibung des Unbeschreiblichen

Für Mityukova erhebt die Fotografie nicht den Anspruch, die Welt zu verändern, aber sie kann dabei helfen, sie zu beschreiben.
Mit einem Zitat von Rainer Werner Fassbinder – «Was wir nicht ändern können, müssen wir zumindest beschreiben» – beschwört die Künstlerin die Macht der dokumentarischen Geste.
«Durch die Verknüpfung von Daten, Bildern, Orten und Zeugenaussagen ist es möglich, eine zugängliche Erzählung zu konstruieren, welche die Rhetorik der Neutralität entlarven und dem Publikum kritische Werkzeuge anbieten kann.»
Dieser Ansatz, der Ästhetik und Anprangerung miteinander verwebt, ist in einem Kontext wie der Schweiz besonders wirkungsvoll, wo offizielle Bilder und gelegentlich auch kulturelle Institutionen das Bild eines friedlichen, geordneten und neutralen Landes konstruieren.
Laut Mityukova nehmen diejenigen, die das Land von aussen beobachten, jedoch oft eine andere Realität wahr: eine Nation, die ihre Stabilität ausnutzt, um eine zweifelhafte Rolle in globalen Konflikten zu spielen; eine Nation, die ihren Wohlstand mit Geldern zweifelhafter Herkunft finanziert; eine Nation, die eine «Landschaftsethik» aus Bergen, Seen und beruhigender Stille aufbaut.
Ein Projekt im Entstehen
Die in Biel präsentierte Ausstellung ist nur der Anfang eines Projekts, das stetig wachsen soll. Die Sammlung von Fotos sowie von Daten, Verbindungen und Überlegungen entwickelt sich ständig weiter. Mityukova möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern sich Zeit nehmen, um die Richtung des Projekts zu verstehen.
«Es ist die Fotografie, die einen neuen Ausgangspunkt bieten kann: ein Objektiv, um die Verwerfungen einer nationalen Identität zu beobachten, die auf Schweigen aufgebaut ist.»
Und durch die fotografische Geste könne die Schweiz endlich beginnen, in den Spiegel zu schauen. Zumindest metaphorisch. Es ist kein Zufall, dass Mityukova vor jedes Bild eine Glasscheibe gestellt hat: einen Spiegel, in dem sich die betrachtende Person in ihrer persönlichen «Quiet Neutrality» reflektieren kann.

Anastasia Mityukova wurde 1992 in Taschkent (Usbekistan) geboren und kam im Alter von zwei Jahren mit ihren Eltern in die Schweiz. Sie leitet das Festival Photobooks SwitzerlandExterner Link in Genf, ist Fotoredaktorin für Le Temps und betreibt fotografische Forschung auf künstlerischer Ebene, indem sie Archiv, Erzählung und Untersuchung verbindet.
Zu ihren bekanntesten Arbeiten gehört «Project Iceworm» (2019), die Untersuchung einer US-Militärbasis in Grönland, die auf der Kunstbiennale Peking 2022–2023 präsentiert wurde.
Editiert von Daniele Mariani und Eduardo Simantob, Übertragung aus dem Italienischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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