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Bern, Tokio, Bangkok, mit einer Portion Mut und Naivität im Koffer

Ein junger Mann vor einer Hochhäuserschlucht
Linus Dolfini fühlt sich wohl in der Millionenmetropole Bangkok. zVg

Linus Dolfini, ein in Bangkok lebender Schweizer, arbeitet für eine buddhistische Vereinigung in der thailändischen Hauptstadt. Seine Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie das Leben einen an unerwartete Orte führen kann.

Hätte Linus Dolfini vor anderthalb Jahren den Anfang dieses Artikels gelesen, hätte er es wohl kaum geglaubt.

Heute ist er 24 Jahre alt, lebt in Bangkok und arbeitet für das International Network of Engaged Buddhists (INEB).

Er ist kein Buddhist im religiösen Sinn, aber einige der buddhistischen Lehren «klingen für mich auf besondere Weise nach», erzählt er uns, als wir ihn in Bern treffen, wo er seine Familie besucht.

Sein Abenteuer begann, als er in der Schweizer Bundesstadt Bern Sozialwissenschaften studierte. Es war die Zeit der Pandemie. Wegen dem eingeschränkten akademischen Leben konnte er nicht genügend Universitäts-Kreditpunkte erwerben, um seinen Bachelor-Abschluss in sechs Semestern zu machen.

Um das zusätzliche Semester optimal zu nutzen und die wenigen fehlenden Kreditpunkte zu erwerben, entschied sich Dolfini für ein Austauschstudium, das ihn von September 2023 bis Februar 2024 an die Keio-Universität in Tokio führte. So konnte er auch seinen Wunsch erfüllen, etwas Neues und Anderes zu erleben.

Die Begegnung mit Professor Jonathan Watts, der an der Keio einen Kurs über engagierten Buddhismus unterrichtete, brachte ihn schliesslich auf einen neuen Weg.

Menschen mit alten buddhistischen Lehren helfen

Um zu erklären, was genau diese Bewegung ist, erzählt er uns die Geschichte von Professor Watts, der in den 1990er-Jahren in Thailand zum engagierten Buddhismus fand.

Diese Strömung unterscheidet sich vom Buddhismus, der als persönliche spirituelle Entwicklung verstanden wird. Beim engagierten Buddhismus geht es vielmehr darum, sich dem Leiden zu stellen, das Praktizierende in ihrer Umgebung sehen.

Als Watts Anfang der 2000er-Jahre nach Japan zog, erkannte er, dass nicht genug getan wurde, um akute Probleme des Landes wie Einsamkeit, Arbeitsstress und eine hohe Suizidrate zu lösen.

Er begann daher, ein Netzwerk zwischen den verschiedenen buddhistischen Tempeln und Vereinigungen aufzubauen, um etwas gegen diese Probleme zu unternehmen.

«Der Ansatz vieler buddhistischer Lehren kann dabei helfen, mit diesen Problemen umzugehen», sagt Dolfini. «Zum Beispiel kann Meditation dabei helfen, und die Idee, dass man vor negativen Gefühlen nicht weglaufen sollte, ist ebenfalls hilfreich. Man muss sie akzeptieren und sich gleichzeitig nicht von ihnen beherrschen lassen.»

Genau dieser Aspekt interessierte den jungen Berner, denn seine Generation ist sehr stark mit psychischen Problemen konfrontiert. «Die alten buddhistischen Lehren lassen sich auf den modernen Kontext übertragen.» Es gehe nicht um Bekehrung, betont er, sondern darum, Menschen zu helfen.

«Vielleicht war es Wahnsinn»

Zurück nach Tokio. Am Ende des Kurses kam Professor Watts auf ihn zu und erzählte ihm, dass es in Bangkok eine freie Stelle bei INEB für ihn gäbe, falls er Interesse an einer Tätigkeit dort hätte.

«Je mehr ich über seinen Vorschlag nachdachte, desto klarer wurde mir, dass dies genau das war, was ich suchte: echte Berufserfahrung, bevor ich mein Studium fortsetzte», sagt Dolfini, der damals noch nicht viel über Thailand wusste. Es wäre ein Sprung ins Ungewisse gewesen.

Ein junger Mann auf einem Holzsteg
Linus Dolfini in Taiwan, in der Nähe des Xiang-Kuang-Tempels, wohin der Schweizer im Rahmen des internationalen Young Bodhisattva-Programms des INEB reiste. zVg

Aufgrund seiner Erfahrungen in Japan, wo er zum ersten Mal allein in einem fremden Land gelebt hatte, war er jedoch zuversichtlich.

«Ich war mental darauf vorbereitet, in Tokio einen Kulturschock zu erleiden. Das war aber nicht der Fall: Es gab viele andere europäische Studierende und ich befand mich in einer Art Blase, in der es leicht war, Freunde zu finden. Ausserdem organisierte die Universität Begrüssungszeremonien und stellte eine Unterkunft zur Verfügung.»

All dies vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit, sodass er das Jobangebot ohne zu zögern annahm und Ende August 2024 in Bangkok landete.

«Im Nachhinein betrachtet war es verrückt», sagt er lachend. Damit spielt er vor allem auf die Tatsache an, dass er nur ein Hotel für zwei Wochen gebucht hatte – eine kurze Zeit, um sich eine Wohnung zu suchen.

Aber einerseits halfen ihm Schweizer Bekannte, darunter der Onkel eines Freunds und in Thailand lebende Freunde der Familie, andererseits der Immobilienmarkt in Bangkok, wo kurze Fristen von den Wohnungsbesitzenden nicht nur toleriert, sondern sogar gefordert werden.

Schwieriger war es, sich an das Leben dort zu gewöhnen. «Ich hatte keine Freunde, keinen sozialen Kreis. Zudem hatte mein Körper – vielleicht aufgrund der heissen Temperaturen, des Stresses und der Ernährung – Schwierigkeiten, sich anzupassen», erzählt er.

«Ich war oft krank und lag fünf oder sechs Tage lang allein in meinem Zimmer. In diesen Momenten dachte ich wirklich, dass es keine gute Idee gewesen war, nach Bangkok zu ziehen.»

Die Arbeit war ebenfalls eine Herausforderung, denn das Büro liess ihm zwar bei der Auswahl der Projekte viel Freiheit, doch der fehlende Rahmen und die Notwendigkeit, proaktiv zu sein, unterschieden sich stark vom akademischen Leben mit seinen genau definierten Aufgaben und klaren Fristen.

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In Bangkok daheim

Doch all diese Schwierigkeiten lösten sich schnell in Luft auf. «Man lernt einen Freund kennen, dann einen anderen, macht sich mit den Orten in der Stadt vertraut und entscheidet, wohin man am Wochenende geht.»

Auch im Büro sind die Dinge in vollem Gang: Nach Abschluss eines Projekts zur Stärkung des INEB-Netzes, für das Dolfini durch das ganze Land reiste und eine Liste sowie einen Artikel über Tempel und Projekte im Zusammenhang mit dem engagierten Buddhismus zusammenstellte, ist er nun damit beschäftigt, ein Fundraising-Projekt zu starten.

Gleichzeitig ist er an der Organisation von Seminaren und Konferenzen beteiligt – auch in anderen asiatischen Ländern – sowie an einem Programm, in dem er Studierende aus Thailand, Myanmar, Japan und Indien in Englisch unterrichtet.

Ein junger Mann in einem Steinkreis, mit anderen jungen Menschen
Linus Dolfini bei einem INEB-Treffen in Auroville, Indien. zVg

Sein Vertrag endet im August nächsten Jahres, aber er hat bereits beschlossen, dass er seinen Aufenthalt in Thailand um mindestens zwölf Monate verlängern wird.

Wenn Dolfini über die Schweiz spricht, sagt er: «Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dort zu leben. In Bangkok ist jede Woche aufregend» Er verweist dabei auf die Lebendigkeit und Vielfalt der verschiedenen Viertel mit ihren Clubs, Popup-Restaurants und ihrer Strassenkunst…

«Wenn man Lust hat, etwas zu tun, kann man einfach losziehen und es machen. In der Schweiz gibt es nicht so viele Möglichkeiten, besonders im Winter nicht.»

Als wir uns in Bern verabschieden, sagt er: «Morgen nehme ich das Flugzeug und fliege zurück nach Bangkok. Ich habe das Gefühl, dass ich nach Hause gehe.»

Editiert von Daniele Mariani, Übertragung aus dem Italienischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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