Kommune in Indien – ein Auslandschweizer lebt die Utopie von Einheit

Ein Treffen mit dem Auslandschweizer David Zbinden, der in der Experimentalstadt Auroville in Indien lebt.
David Zbinden war sechs Jahre alt, als seine Eltern – beide aus dem Kanton Bern – beschlossen, ihr Leben zu ändern. «Mein Vater liebte Indien, er hatte immer eine spirituelle Seite. Meiner Mutter gefielen der westliche Lebensstil und das Konsumverhalten nicht: viel arbeiten und viel konsumieren. Sie suchten nach etwas anderem, etwas spirituell Höherem als die normale Zivilisation.»
Und das haben sie auch gefunden. 1996, nach einem dreimonatigen Aufenthalt in Auroville, beschlossen sie, endgültig dorthin zu ziehen. Die Familie kehrte für weitere sechs Monate in die Schweiz zurück, um sich vorzubereiten, «alles zu verkaufen», ihre Vorsorgegelder abzuheben und in ihr neues Leben aufzubrechen.
Ein Gemeinschaftsexperiment
Was genau ist Auroville? Laut David liegt die Schönheit dieses Ortes im indischen Bundesstaat Tamil Nadu, in der Nähe der Stadt Pondicherry, darin, dass alle eine andere Sichtweise darauf haben, was er ist und was er sein sollte. Es ist eine experimentelle Stadt, die 1968 von der Französin Mirra Alfassa gegründet wurde. Sie wurde «Mère» (Mutter) genannt und war eine Weggefährtin des indischen Gurus und Philosophen Sri Aurobindo.
Es war die Vision der «Mutter», eine Stadt der Zukunft zu bauen, in der sich eine höhere Ebene des menschlichen Bewusstseins in dieser Welt manifestieren kann.
Das Dorf, in dem heute etwa 3’500 Menschen leben, wurde vom französischen Architekten Roger Anger entworfen und entwickelt sich rund um ein goldenes, kugelförmiges Gebäude namens Matrimandir, ein Ort der Meditation und Symbol für das menschliche Streben nach Perfektion. Um das Gebäude herum gibt es vier «Zonen»: Wohn-, Industrie-, Kultur- (Bildungs-) und die internationale Zone. In letzterer veranschaulichen nationale Pavillons, wie «das Prinzip der Einheit in der Vielfalt auf globaler Ebene, auf der Ebene der verschiedenen Nationen und Kulturen, die die heutige Menschheit ausmachen, angewendet werden sollte».
Etwa die Hälfte der Bewohner:innen ist indisch, der Rest kommt aus anderen Ländern. Die am stärksten vertretenen ausländischen Nationalitäten sind: Frankreich, Deutschland, Italien, Holland und die USA.
Diese Diversität hatte einen Einfluss auf Davids Bildung. «Das Lehrerkollegium ist sehr vielfältig: ein Lehrer aus Deutschland, andere aus Frankreich, Indien oder Südkorea. Ich war in einer Klasse mit indischen Kindern, einem Jungen aus Belgien, einem koreanischen Mädchen, einem Iren und so weiter.»

Da die Hauptsprache seiner Familie Deutsch war, besuchte er neben dem obligatorischen Englischunterricht zusätzliche deutschsprachige Kurse. Für Kinder, die beispielsweise aus einem spanischsprachigen Land kommen, gibt es in Auroville zusätzliche Klassen in Spanisch, und es ist möglich, weitere Sprachen zu lernen. Heute spricht David fliessend Englisch, Deutsch (und Schweizerdeutsch) und hat ein zur Verständigung «ausreichendes» Niveau in Tamil und Französisch.
Der Bildungsweg ist ähnlich wie in westlichen oder indischen Schulen, erklärt David. Allerdings gibt es einige Unterschiede. «Die Klassen sind viel kleiner und es gibt zum Beispiel einen Kurs mit dem Titel ‹Körperbewusstsein›, in dem wir Meditation, Hindernisläufe usw. machen.»

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Der Gedanke, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, missfiel David. Mit 16-17 Jahren hatte er genug von der Theorie. Er wollte einen Job, der ihn mit dem «echten Leben» in Kontakt bringt.
«Ich habe in den letzten 15 Jahren viele verschiedene Jobs gemacht, aber hauptsächlich in der Gastronomie und im Restaurantbereich.» David hat drei Lokale in Auroville eröffnet. Eines ist geschlossen und an einem anderen ist er nicht mehr beteiligt, aber beim dritten leitet er weiterhin die Küche. Dazu kommen Beratungstätigkeiten in der Gastronomie und sein Hobby als DJ.
Am meisten beschäftigt ihn jedoch sein zweieinhalbjähriger Sohn, der wie Davids deutschstämmige Frau in Auroville geboren wurde.
Nicht mehr als drei Monate in der Schweiz
Von aussen könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Entscheidung, in einer Stadt wie Auroville zu leben, ziemlich extrem sei. Wir fragen David, ob er jemals den Beschluss seiner Eltern in Frage gestellt hat.
«Ich habe mich oft gefragt, wie sie es geschafft haben, oder besser gesagt, wie irgendjemand es schaffen kann, sich zu entscheiden, sein Leben zu ändern und in ein anderes Land auszuwandern», sagt er.
Auch deshalb wollte er es selbst ausprobieren. Nach der Schule kaufte David ein Ticket in die Schweiz, um zu sehen, wie es dort ist, um Schulen zu besuchen und nach Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. «Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich lieber in Auroville lebe. Ich liebe es, in die Schweiz zu gehen, aber nicht länger als drei Monate.»
Jetzt kehrt er jedes Jahr für genau diesen Zeitraum im Sommer zurück, um in einem Restaurant in Bern zu arbeiten, die Gelegenheit für ein paar erfrischende Sprünge in die Aare zu nutzen und etwas Geld zu verdienen. Auch wenn Auroville sich idealerweise vom Geld lösen möchte, «sind wir noch nicht zu 100% dort angekommen», sagt David. Ausserdem kann man nicht darauf verzichten, wenn man reisen möchte.
Im Dorf finden viele kleine Experimente statt, die auf Solidarität, persönlicher Verantwortung und der Idee «ich erhalte, was ich brauche, und gebe, was ich kann» basieren. Experimente, die an einem Ort möglich sind, der noch relativ klein ist und in dem die Idee der Gemeinschaft tief verwurzelt ist. David nennt als Beispiel einen «Laden», in den die Bewohner:innen jenen Betrag einzahlen, den sie für angemessen halten. Sie können sich dann frei bedienen und am Ende des Monats feststellen, ob sie im Vergleich zu ihrem Konsum zu viel oder zu wenig gegeben haben. Im nächsten Monat zahlen sie dann entsprechend.

Eine bedrohte Utopie?
In Auroville ist nicht alles eitel Sonnenschein. Auch an diesem Ort, der nach menschlicher Entwicklung strebt, gibt es Probleme im Zusammenhang mit politischen Interessen und gegensätzlichen Ansichten. Die jüngste Herausforderung, über die auch die internationale Presse ausführlich berichtet hat, sind die Massnahmen, die der letzte indische Regierungsvertreter vor vier Jahren ergriffen hat, um die Entwicklung des Ortes zu beschleunigen. Dazu gehören beispielsweise der Bau von Strassen und die Abholzung eines Teils der Vegetation rund um die Siedlung. Das Ziel: die zu Beginn des Experiments angestrebte Einwohnerzahl von 50’000 zu erreichen.
Es sind drastische Eingriffe, die «laut 90% der hier lebenden Menschen» zu schnell und willkürlich erfolgen, sagt David. Einigen, die protestiert haben, wurde die Erneuerung ihres Aufenthaltsvisums verweigert, andere sind freiwillig gegangen.
Der Schweizer Aurovillianer hat jedoch die Hoffnung nicht verloren und glaubt, dass es sich um eine «Herausforderung handelt, die die Gemeinschaft so bewältigen wird, dass alle davon profitieren können». Einschliesslich der indischen Regierung.
Interessieren Sie sich für Auroville? Schauen Sie dazu diese SRF-Reportage:
Die Sicht der Menschen
Diese Gutwilligkeit und offene Einstellung, die Fähigkeit zu verstehen, dass anderen Menschen Gutes oder Schlechtes zu tun, dasselbe ist, wie es sich selbst anzutun, ist eine Charaktereigenschaft der Aurovillianer, die laut David der Schweiz überhaupt nicht schaden würde. In der Schweiz hat er den Eindruck, dass die von den Menschen gezeigte Herzlichkeit eher oberflächlich ist.
«Manchmal ist die Schweizer Gesellschaft ein bisschen kalt. In Indien zum Beispiel starren dich die Leute an. Das ist sehr üblich. Wenn ich in der Schweiz im Bus sitze und jemanden beobachte, könnte diese Person wütend werden oder sich zumindest unwohl fühlen.»
Welche Schweizer Eigenschaft würde er dagegen gerne in Auroville sehen? «Die Organisation», antwortet er ohne zu zögern. «Die Art und Weise, wie ihr die Dinge organisiert, ist einfach auf einem anderen Niveau. Das könnten wir hier manchmal gut gebrauchen.»
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Editiert von Daniele Mariani, Übertragung aus dem Italienischen: Claire Micallef

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