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Ohnmächtige Ziegen und Milliardäre: die eigenwillige Geschichte eines «Schweizer» Dorfs in Rhode Island

Dort im Tessiner Stil in Rhode Island
Tessiner Landschaft? Nein, Rhode Island in den USA. Amory Ross/ Ocean Hour Farm

Im US-Bundesstaat Rhode Island steht ein ungewöhnlicher Bauernhof. Die Gebäudegruppe würde in der italienischen Schweiz nicht aus dem Rahmen fallen, und das ist kein Zufall. Die Geschichte des «Schweizer Dorfs» von Newport ist eine surreale Reise durch architektonischen Prunk, Philanthropie und Genetik.

Im sogenannten «Gilded Age» der Vereinigten Staaten Ende des 19. Jahrhunderts wurde Newport im Bundesstaat Rhode Island zu einem Spielplatz für Superreiche.

Oder vielleicht sollte man besser von einem Schlachtfeld sprechen, auf dem die Crème de la Crème der High Society keine Mühen scheute, um die Nachbarn zu demütigen.

Die prächtigsten Villen wurden gebaut – opulente Gebäude, die mit dem irreführenden Begriff «Summer Cottage» bezeichnet wurden – und die extravagantesten Feste organisiert.

Arthur Curtiss James, Philanthrop und Magnat der Eisenbahn- und Bergbauindustrie, kam 1908 zum ersten Mal mit seiner Frau Harriet nach Newport, als diese Ära bereits zu Ende ging und die Exzesse der vergangenen Jahrzehnte einem gemässigteren Lebensstil gewichen waren.

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Es war ein Umfeld, das dem Paar mehr entsprach. Das Bild, das Autor Roger Vaughan von Arthur Curtiss James in der Biografie «Arthur Curtiss James: Unsung Titan of the Gilded Age» zeichnet, ist das eines diskreten Industriegiganten, der das Rampenlicht mied.

So sehr, dass er noch heute eine Persönlichkeit ist, über die im Vergleich zu anderen Zeitgenossen wie John D. Rockefeller, Andrew Carnegie oder J.P. Morgan wenig gesprochen wird.

Das bedeutet nicht, dass die James nicht an der «Schlacht» teilgenommen hätten. Geld war für sie kein Problem, und sie kauften in Newport ein Grundstück auf einem Hügel, relativ weit entfernt von den anderen «Cottages».

Telegraph Hill sollte zum weissen Blatt Papier werden, auf dem sie ihr Meisterwerk schaffen würden, wo jede Mauer, jede Pflanze, jeder Blick auf das Meer bis ins kleinste Detail durchdacht war. Der Hügel selbst wurde geschickt durch gezielten Einsatz von Dynamit geformt.

Nach der Hauptvilla, zwei weiteren Herrenhäusern und dem «Blue Garden» (einem raffinierten «geheimen» Garten, in dem Hariett die Verwendung von Blumen in frivolen Farben wie Rot, Gelb oder Rosa verbot), wurde das Werk durch einen Bauernhof vervollständigt; ein «Schweizer» Bauernhof, der 1917 fertiggestellt wurde.

Kühe auf der Suche nach einer Bleibe

Die James waren begeisterte Reisende (Arthurs grosse Leidenschaft war die Seefahrt), und auf ihren verschiedenen Reisen durch den Alten Kontinent kamen sie auch in die Eidgenossenschaft, wo Hariett von den typischen Steindörfern südlich der Alpen fasziniert war.

Die Gemeinde Giornico
Es ist nicht bekannt, welche Schweizer Dörfer auf die James Eindruck gemacht haben, auch weil sich seit damals viel verändert hat. Ein Beispiel könnte aber die Gemeinde Giornico sein. Keystone / Gaetan Bally

Als Arthur Curtiss James über das Schicksal einer Herde Guernsey-Kühe entscheiden musste, die er von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte und die sich auf einem Grundstück in New Jersey befanden, das verkauft werden sollte, nahm eine Idee Gestalt an: der Bau eines Miniaturdorfs nach Vorbild der alten Dörfer der italienischen Schweiz. Auf diese Weise würde er sowohl seine Frau als auch die Kühe zufriedenstellen.

Das Material, das Architekt Grosvenor Atterbury verwendete, war der Granit des Hügels selbst, der mit Mitteln aus Arthurs Bergbauaktivitäten in die Luft gesprengt wurde.

In Vaughans Buch wird vermutet, dass der ursprüngliche Name der Farm, «Surprise Valley Farm», auf das Tal zurückzuführen ist, das dank der Sprengungen «überraschend» am Telegraph Hill entstanden war. Der Name Swiss Village Farm ist jedoch bis heute der gebräuchlichste.

Die unterschiedlich grossen Steinblöcke verleihen den Gebäuden zwar einen Hauch von Authentizität, reichen aber nicht aus, um ihre Künstlichkeit zu kaschieren – auch angesichts der Entfernung von den Orten, von denen sie inspiriert wurden.

Auch damals beschrieb die Schriftstellerin Lida Rose McCabe den Bauernhof als «theatralisch, offensichtlich eine Bühnenkulisse, mit bereits gehobenem Vorhang».

Das Swiss Village im Jahr 1917, dem Jahr seiner Fertigstellung.
Das Swiss Village im Jahr 1917, dem Jahr seiner Fertigstellung. Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., 20540 USA

Dennoch handelte es sich in jeder Hinsicht um einen funktionierenden Bauernhof. Etwa hundert Menschen arbeiteten dort. Jeder von ihnen erhielt ein Stück Land für den persönlichen Gebrauch, und Arthur Curtiss James ermutigte sie, «zu experimentieren und ihre eigenen Ideen zu entwickeln», wie McCabe schrieb.

Die Verwendung des Wortes «experimentieren» durch McCabe klingt heute fast prophetisch, wenn man das Schicksal dieser Gebäude kennt.

Bei der Arbeit auf dem Bauernhof von Arthur Curtiss James, 1917.
Bei der Arbeit auf dem Bauernhof von Arthur Curtiss James, 1917. Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., 20540 USA

Die seltsamen Tiere des Swiss Village

Nach dem Tod von Arthur und Hariett James im Jahr 1941 wurde der Hof von ihrer Enkelin Hariett Ferry Manice übernommen. 1975 wurde er verkauft und zuerst zu einem Rehabilitationszentrum für Alkoholabhängige, dann 1993 zu einem Ausbildungsort für Menschen mit Behinderungen.

Die wohl erstaunlichste Transformation erfolgte 1998, als eine weitere Person ins Spiel kam, für die Geld kein Problem darstellte: Dorrance Hill Hamilton, Erbin der Familie, welche die Campbell-Dosensuppe erfunden hatte – ein Produkt, das dank Andy WarholExterner Link weltweit Berühmtheit erlangte.

Zu den philanthropischen Interessen von Hamilton, einer langjährigen Einwohnerin von Newport, gehörte die Erhaltung von Gebäuden von historischer Bedeutung. Sie liess den Bauernhof sorgfältig renovieren und das umliegende Gelände vom Asphalt befreien.

Als leidenschaftliche Umweltschützerin gründete die Milliardärin die SVF (Swiss Village Farm) Foundation und verwandelte in Zusammenarbeit mit der Cummings School of Veterinary Medicine das «Tessiner» Dorf in Rhode Island in ein Zentrum für die Erhaltung vom Aussterben bedrohter Nutztiere (ironischerweise war Dorrance Hamiltons Spitzname jener eines ausgestorbenen Tieres: Dodo).

Es handelte sich um seltene Arten, die nach und nach verschwanden, weil sie schwer zu züchten oder aus Sicht der Milch- oder Fleischproduktion wenig rentabel waren.

Das Schweizer Dorf in Rhode Island erstrahlt heute wieder in altem Glanz.
Das Schweizer Dorf in Rhode Island erstrahlt heute wieder in altem Glanz. Maaike Bernstrom/ Ocean Hour Farm

Etwa zwanzig Jahre lang, ab 2002, tummelten sich rund um die Swiss Farm seltsame Tiere, wie Ziegen mit einer ungewöhnlich hohen Anzahl von Hörnern oder die berühmten «fainting goats» aus Tennessee, die an angeborener Myotonie leiden – sie fallen in Ohnmacht, wenn sie erschreckt werden oder aufgeregt sind.

In den Gebäuden arbeiteten Forscherinnen und Forscher, etwa an der Sammlung und Kryokonservierung von genetischem Material (Embryonen, Sperma, Blut usw.) dieser Tiere.

Die Mission der SVF Foundation endete 2021. Insgesamt hat die Stiftung genetisches Material von über 1100 Tieren 36 verschiedener Arten gesammelt und eingefroren, das nun im Dorrance Hamilton Cryo Conservation Laboratory des Smithsonian Conservation Biology Institute in Front Royal, Virginia, aufbewahrt wird.

Die Embryonen können aufgetaut werden, und mittels eines Wirtstiers wird es möglich sein, diese Arten auch dann wieder zum Leben zu erwecken, wenn es sie nicht mehr gibt.

Ein neues Kapitel

Mit dem Ende der Aktivitäten der SVF Foundation ist die Geschichte des Schweizer Dorfs in Rhode Island nicht abgeschlossen.

Das aktuelle Projekt ist mit dem philanthropischen Engagement von Wendy Schmidt verbunden, deren Ehemann Eric Schmidt ehemaliger CEO von Google ist.

Als leidenschaftliche Umweltschützer haben sie die Farm übernommen, die die SVF Foundation mit einer Vereinbarung über eine Naturschutzdienstbarkeit (rechtliche Vereinbarungen zum Erhalt des ökologischen Werts eines Grundstücks) belegt hatte.

Dort haben sie die Ocean Hour FarmExterner Link gegründet, ein Zentrum, das sich der Bildung, Forschung und Förderung regenerativer landwirtschaftlicher Praktiken widmet.

«Unsere Arbeit liefert ein lebendiges Beispiel für nachhaltige Landwirtschaft und Landverwaltung in einem integrierten System, in dem Pflanzen, Tiere und Menschen Kohlenstoff binden, Regenwasser reinigen, Boden gewinnen und Nahrung und Fasern für die Gemeinschaft produzieren», sagt die Kommunikationsmanagerin Hilary Kotoun.

Ein sehr anderes Experiment als das, was sich Arthur Curtiss James vielleicht vorgestellt hatte, aber dem er wahrscheinlich nichts entgegenzusetzen hätte.

Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen mit Hilfe des KI-Tools Claude: Claire Micallef

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