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Atomausstieg – das umstrittene Generationenprojekt wird konkreter

Nuclear energy provides the lion’s share of the current electricity mix at 40% Keystone

Atomausstieg Ja oder Nein und vor allem: wann? Wie viel Wasser-, Sonnen- und Windenergie braucht die Schweiz künftig, und wie hoch ist das Sparpotential? Mit diesen Fragen befasst sich das Parlament in der laufendenden Wintersession. Lange Diskussionen und Konfrontationen sind programmiert.

40 Seiten umfasst die Botschaft des Bundesrats ans Parlament. 250 Änderungsanträge liegen auf dem Tisch. Sie sind das Resultat der vorbereitenden Arbeiten in der Energiekommission, die mehr als ein Jahr in Anspruch genommen haben. Eine Volksabstimmung liegt in der Luft.

Damit ist klar, dass die regulatorischen Leitplanken für den Ausstieg aus der Kernenergie und die Wende hin zu erneuerbaren Energieformen noch einen langen Weg vor sich haben. Das optimistische Szenario des Bundesrats geht von einer Inkraftsetzung im Jahr 2017 aus.

Vision und Grobplanung

Die Energiestrategie 2050Externer Link ist ein Generationenprojekt, eine Vision, ein grober Plan, denn verschiedene Parameter wie Technologien, Strompreise, politische Sensibilitäten und Akzeptanzen sind ständigen Veränderungen unterworfen. Dazu kommt: Die schweizerische Energieversorgung ist nicht autark, und auch künftig wird der Umfang der Stromimporte nicht gesetzlich geregelt sein.

Die AKW-Stilllegungs- und Entsorgungsfonds sind zu wenig stark dotiert. Zudem haben die Betreiber der Kernkraftwerke einen zu grossen Einfluss darauf.

Zu diesen Schlüssen kommt die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) in einem Bericht. Sie schlägt die Schaffung einer unabhängigen öffentlichen Einrichtung vor.

Die vom Bundesrat im Juni beschlossene Revision der Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung (SEFV) werde zwar ab dem 1. Januar 2015 merkliche Verbesserungen in der Frage der finanziellen Mittel bringen, schreibt die EFK in ihrem Bericht. Die Beiträge der AKW-Betreiber seien allerdings auf der Basis eines idealen Szenarios berechnet.

Risiken wie Rechtsunsicherheit oder Kostensteigerungen seien in den bisherigen Berechnung noch nicht berücksichtigt worden. Die EFK schlägt dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) in ihrem Bericht deshalb vor, neue Kostenstudien mit verschiedenen Szenarien zu rechnen.

Der Fonds für die Stilllegung von Kernanlagen enthielt Ende 2013 Mittel in Höhe von rund 1,7 Milliarden Franken. Nach den Schätzungen einer vom Bund in Auftrag gegebenen und 2011 veröffentlichten Kostenstudie sind aber rund 2,9 Milliarden erforderlich.

Im Fonds für die Entsorgung der Nuklearabfälle werden gemäss derselben Studie für die Kosten ab Ausserbetriebnahme rund 8,4 Milliarden benötigt. Verfügbar sind heute erst 3,6 Milliarden Franken. Kämen die AKW-Betreiber ihren finanziellen Verpflichtungen bei beiden Fonds nicht nach, laufe der Bund Gefahr, die fehlenden Mittel bereitstellen zu müssen, stellt die EFK fest.

Auch bei der Verwaltung der Fonds schlägt die EFK Änderungen vor. Sie ist der Meinung, dass die AKW-Vertreter in der Kommission und anderen Organen der Fonds zu viel Einfluss haben. Dieses Ungleichgewicht kann nach Ansicht der EFK durch die Überführung der beiden Fonds in eine rechtlich selbständige und von unabhängigen Vertretern geführte öffentliche Einrichtung behoben werden.

Die Betreiber der Kernkraftwerke distanzieren sich in einer Mitteilung vom EFK-Prüfbericht. Die zentralen Darstellungen und Schlussfolgerungen und die daraus abgeleiteten Empfehlungen träfen nicht zu, weil sie auf falschen Prämissen beruhten. Das finanzielle Risiko für den Bund sei äusserst gering, schreibt Swisselectric, die Organisation der grossen schweizerischen Stromverbundunternehmen.

Vereinfacht und auf den Punkt gebracht will das links-grüne Lager im Parlament die vom Bundesrat angestrebte Energiewende beschleunigen, also möglichst schnell aus der Atomkraft aussteigen und den Zubau bei den neuen erneuerbaren Energien höher subventionieren. Die Freisinnigen (FDP.Die Liberalen) und die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) streben eine Verhinderung der bundesrätlichen Energiestrategie oder zumindest eine substantielle Abschwächung an. Das heisst: möglichst lange Laufzeiten für die bestehenden Kernkraftwerke, kein Technologieverbot und weniger Subventionen für Sonne- und Windkraft.

Zankapfel: AKW-Laufzeiten

Nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima am 11. März 2011 sass der Schock tief und alles ging schnell. Nur drei Tage später, am 14. März 2011, hat Energieministerin Doris Leuthard die Rahmenbewilligungen für die damals geplanten drei neuen Kernkraftwerke sistiert. Ende Mai 2011 hat der Bundesrat den schrittweisen Atomausstieg beschlossen. Im Herbst 2011 bestätigte das Parlament den Ausstieg. Schrittweise, das hiess damals, dass die bestehenden Atomkraftwerke allesamt nach einer Laufzeit von maximal 50 Jahren stillgelegt werden. Leibstadt, das jüngste Schweizer AKW ging 1984 ans Netz, müsste demnach also spätestens 2034 abgeschaltet werden und das definitive Ende der Atomstromproduktion besiegeln.

In der Zwischenzeit ist dieses Szenario ins Wanken geraten. Laut einer Mehrheit der vorberatenden Energiekommission soll die Betriebsdauer der AKW jeweils um 10 Jahre verlängert werden, falls diese die dannzumal geltenden Sicherheitsauflagen erfüllen. «Mit der Möglichkeit, die Betriebszeiten alle zehn Jahre um weitere zehn zu verlängern, rückt der Atomausstieg in weite Ferne. Die altersbedingten Unfallrisiken nehmen nicht ab», kritisiert Jürg Buri, der Präsident der Allianz AtomausstiegExterner Link. Die Grünen haben bereits im November 2012 eine Volksinitiative eingereicht, die verlangt, dass alle AKW spätestens nach 45 Jahren vom Netz müssen.

Der Fall der Strompreise

Auf der andern Seite des energiepolitischen Spektrums steht die Aktion für eine vernünftige Energiepolitik (AVESExterner Link). «Die Situation auf dem Strommarkt hat sich seit Fukushima  massgebend verändert «, sagt deren Präsident Albert Rösti und verweist auf die europaweit stark gefallenen Strompreise, die vor allem auch auf den massiven Ausbau von Sonnen- und Windkraft in Deutschland zurückzuführen sind. «Darum sollten wir jetzt einen Marschhalt einlegen, denn Eile ist nicht angesagt, wir haben genügend Strom. Es macht keinen Sinn, massiv Subventionen in Technologien zu stecken, die nur zusammen mit Speichermöglichkeiten rentabel betrieben werden können.»

Kernkraftwerke wolle «heute keiner bauen», sagt Rösti, aber es sei falsch, mit dem Verbot von Kernkraftwerken ein Technologieverbot zu verhängen. «Wer weiss, was in zwanzig Jahren ist und wie sich die Kerntechnologie bis dann entwickelt hat.»

Rösti will deshalb die Energiestrategie 2050 zur Überarbeitung an den Bundesrat zurückweisen. Dabei kann er auf die Unterstützung seiner Partei, der SVP, und einen Grossteil der Freisinnigen zählen. Doch die Mehrheit des Rates wird wahrscheinlich grundsätzlich Eintreten beschliessen.

Mehr Importe im Winter

Ein zentraler Punkt der Energiestrategie 2050 ist die Frage, womit die Kernenergie, die mit 40% einen Grossteil zum aktuellen Strom-MixExterner Link beiträgt, ersetzt werden soll. Der Bundesrat und die Kommissionsmehrheit streben einen Ausbau der erneuerbaren Energien um den Faktor zehn an.

Fakt ist jedoch, dass AKW und Wasserkraftwerke rund um die Uhr und unabhängig vom Wetter regelmässig Strom produzieren. Wind- und Sonnenenergie sind starken Schwankungen unterworfen. Zudem produzieren sie ausgerechnet dann zu wenig, wenn der Stromverbrauch am höchsten ist, im Winter.

Kommt dazu, dass es zurzeit noch keine rentablen und genügend leistungsfähige Speicherlösungen gibt. «Es gibt sehr viel Dynamik in der Forschung und auch im Markt», sagt dazu Pascal Previdoli, Vizedirektor des Bundesamts für Energie mit Blick auf eine mittelfristige Zukunft.  Zudem sei die Option der nicht CO2-neutralen und deshalb umstrittenen Gaskraftwerke als Übergangslösung noch nicht ganz vom Tisch, und vor allem im Winter könnte das Land mehr Strom importieren, so Previdoli.

Die Energiewende ist ein Grossprojekt und entsprechend hoch werden deren Kosten ausfallen, denn der Zubau neuer erneuerbarer Energien (Solar- und Windstrom, Geothermie und Biomasse) wird von der Eidgenossenschaft subventioniert.

Eine Berechnung des Wirtschaftsverbands Economiesuisse kommt zum Schluss, dass das seit einigen Jahren laufende Förderprogramm für diese4 Energieformen bis zu seinem Auslaufen noch rund 28 Milliarden Franken kosten werde. Damit würde die Energiewende teurer als das Eisenbahnprojekt Neat mit dem Gotthard- und dem Lötschbergtunnel.

Die 28 Milliarden Franken sind vorsichtig gerechnet.

Der Schatten Deutschlands

Wohin ein massiver Zubau an Sonne- und Windenergie führen kann, zeigt das Beispiel Deutschland. Die Öko-Kraftwerke erzeugen mehr Strom, als die kühnsten Optimisten unter den Experten erwartet hatten. Der Strompreis ist im Keller. Im Sommer gibt es zu viel, im Winter zu wenig Strom.

Vor diesem Hintergrund ist absehbar, dass die geplante Erhöhung der kostendeckenden Einspeisevergütung für Photovoltaik-Anlagen im Nationalrat zu grossen Diskussionen führen wird. Geplant ist, die Einspeisevergütung zu erhöhen und gleichzeitig dem Markt anzupassen. So soll die Vergütung bei Stromengpässen im Winter höher ausfallen, als an einem schönen Sommertag. Der Bundesrat will mit dieser Art Planwirtschaft erreichen, dass die privaten Anlagebetreiber bei Stromengpässen mehr Strom einspeisen, als in Zeiten der Überschüsse. Funktionieren kann das Modell allerdings lediglich im Verbund mit kostengünstigen Speichermöglichkeiten, also – so der aktuelle Stand der Forschung – in einigen Jahren.

Sparen Ja, aber wie viel?

Uneinig sind sich die Lager auch über die anzustrebenden Zielwerte bei der Reduktion des Energieverbrauchs. Linke, Grüne und die politische Mitte wollen den gesamten Energieverbrauch bis 2035 um 43% gegenüber dem Jahr 2000 reduzieren, den Stromverbrauch um 13%. Dass rechtsbürgerliche Lager gibt sich mit 35% weniger Energieverbrauch zufrieden. Der Stromverbrauch soll lediglich stabilisiert werden und dies ausgehend vom Verbrauch im Jahr 2020.

20 Stunden hat der Nationalrat für die Beratungen eingeplant. Danach wird sich der Ständerat mit der Materie befassen. «Wenn wir in der Minderheit bleiben und das Parlament an der Vorlage keine massiven Änderungen vornimmt, dann muss das Paket vors Volk», sagt Albert Rösti. Die Freisinnigen bezeichnen die Energiestrategie als «Katze im Sack» und verlangen deshalb eine Volksabstimmung. Gut möglich also, dass das Schweizer Stimmvolk dereinst gleichzeitig über die vom Parlament beschlossene Energiestrategie 2050 und die Ausstiegsinitiative der Grünen abstimmen wird. 

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