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Schweiz ist aufgefordert, mehr Schulden zu machen, um die Wirtschaft zu stützen

Das Wachstum der Schweizer Wirtschaft wird gemäss Prognosen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) im Jahr 2020 voraussichtlich um 6,7% zurückgehen, die stärkste Abschwächung seit 1975. Keystone / Ennio Leanza


Die Coronavirus-Krise könnte ein Loch von mehreren Dutzend Milliarden Franken in die Bundeskasse reissen. Ein enormer Verlust, den die Schweiz aber dank eines im internationalen Vergleich sehr umsichtigen Umgangs mit ihren öffentlichen Mitteln leicht ausgleichen kann.

Dieser Inhalt wurde am 15. Mai 2020 - 15:30 publiziert

Steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Steuereinnahmen, kostspielige Unterstützungspläne für die am stärksten betroffenen Wirtschaftssektoren: Die Coronavirus-Krise dürfte die öffentlichen Kassen sehr viel Geld kosten, in der Schweiz wie auch im Ausland.

Ende April präsentierte Finanzminister Ueli Maurer eine erste Schätzung: Die Verluste in diesem Jahr könnten sich auf rund 80 Milliarden Franken belaufen, was in etwa einem Jahresbudget des Bundes entspricht.

Gegenwärtig geht es nicht darum, die Steuern zu erhöhen oder die öffentlichen Ausgaben zu kürzen – beide Schritte könnten die für nächstes Jahr erhoffte Erholung des Wirtschaftswachstums dämpfen. "Eine Erhöhung der Steuern würde die Situation für Unternehmen und für Menschen, die bereits am Abgrund stehen, noch schwieriger machen", sagte Wirtschaftsminister Guy Parmelin kürzlich in einem Interview mit dem Westschweizer Fernsehen RTSExterner Link.

Um das Defizit aufzufangen, setzt die öffentliche Hand stattdessen vorerst auf eine Erhöhung der Verschuldung. Während viele Länder bereits bei Ausbruch der Coronavirus-Krise hoch verschuldet waren, befindet sich die Schweiz in einer günstigen Situation, wie der Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB), Thomas Jordan, letzte Woche sagte. "Die Staatsverschuldung konnte in den letzten zehn Jahren dank der Schuldenbremse reduziert werden, während sie in Europa und den Vereinigten Staaten als Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 stark angestiegen ist", sagte er in einem InterviewExterner Link mit Le Matin Dimanche und der SonntagsZeitung.

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Seit 2006 hatte der Bund praktisch jedes Jahr – mit Ausnahme von 2014 – Überschüsse von mehreren Milliarden Franken angehäuft, die zur Schuldentilgung verwendet wurden. Selbst während der Krise von 2008-2009, die einen Grossteil der Weltwirtschaft in die Knie gezwungen hatte.

Eine komfortable, aus ausländischer Sicht gar surreale Situation, die auf die gute Gesundheit der Schweizer Wirtschaft zurückzuführen ist, aber auch auf die SchuldenbremseExterner Link, einen von der Eidgenossenschaft 2003 eingeführten Mechanismus, um strukturelle Ungleichgewichte in den Bundesfinanzen zu vermeiden und ein Schuldenwachstum wie in den 1990er-Jahren zu verhindern.

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In den letzten Wochen forderten jedoch viele Ökonomen die Regierung öffentlich auf, diese Haushaltsgrundsätze über Bord zu werfen und massiv in die Sicherung der Schweizer Wirtschaft zu investieren, um das Gespenst einer vertieften Krise zu vermeiden.

Verschuldung zu niedrig

Insbesondere befürchten sie, dass die Abneigung, die ein Teil der politischen Klasse der Schweiz gegen Schulden hegt, ein rasches Wiederanziehen des Wirtschaftswachstums verhindern könnte.

"Wenn man einen Handlungsspielraum hat, ist es sehr konstruktiv, sein Geld für Investitionen zu verwenden, um zu versuchen, Strukturreformen durchzuführen und mehr Wachstum zu erzielen. Das macht es einfacher, Schulden zu tilgen", sagte Marie Owens Thomsen, Chefökonomin von CA Indosuez Switzerland, in einem Beitrag des Westschweizer Radios RTS La PremièreExterner Link

"Verschuldung ist nicht nur eine Last oder gar eine 'Sünde' nach deutschsprachiger Etymologie [Schuld]. Sie ist ein Instrument, um wichtige Investitionen für künftige Generationen zu tätigen."

Cédric Tille, Ökonom

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Cédric TilleExterner Link, Professor für Wirtschaftswissenschaften am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung, teilt diese Ansicht: "Die Schweiz verfügt über einen grossen Handlungsspielraum und kann die Kosten einer substanziellen Erhöhung der Verschuldung leicht auffangen. Umso mehr, als die Kreditaufnahme heute schmerzlos ist und dem Staat mit negativen 30-Jahr-Zinsen sogar Geld einbringt", sagt er gegenüber swissinfo.ch.

Aus rein ökonomischer Sicht hält der Genfer Professor die aktuelle Verschuldung der Schweiz für zu gering. "Verschuldung ist nicht nur eine Last oder gar eine 'Sünde' nach deutschsprachiger Etymologie (Schuld). Sie ist ein Instrument, um wichtige Investitionen für künftige Generationen zu tätigen. Sie stellt auch einen sicheren Vermögenswert dar, den private Investoren sehr schätzen", sagt er.

Bremse gegen ausschweifende Verschuldung

Andere Ökonomen, insbesondere Deutschschweizer, sind vorsichtiger und warnen vor einer zu starken Lockerung der Haushaltsdisziplin. "Viele Politiker sind sich in der heutigen Rettungseuphorie wohl nicht bewusst, dass die Schuldenbremse eine Art Gedächtnis hat", sagte Christoph Schaltegger, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Luzern, in einem InterviewExterner Link mit der Deutschschweizer Wochenzeitung Die Weltwoche.

Er verwies darauf, dass die ausserordentlichen Ausgaben im Normalfall innerhalb der folgenden sechs Jahre über den ordentlichen Haushalt kompensiert werden müssten. "Die Ernüchterung nach dem jetzigen Ausgabenrausch wird also spätestens bei der nächsten Budgetdebatte beträchtlich sein, wenn die Politiker sehen, wie eng die Spielräume geworden sind", so Christoph Schaltegger weiter.

Cédric Tille ist seinerseits der Meinung, dass die Schuldenbremse zu restriktiv ausgelegt werde. Es sei notwendig, jetzt etwas loszulassen. "Dieses Instrument wurde mit dem Ziel eingeführt, die Schulden zu stabilisieren, nicht massiv zu reduzieren. Die Bundesverfassung wird also seit mehr als einem Jahrzehnt durch Budgetüberschüsse verletzt, die systematisch höher sind als prognostiziert", sagt er.

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Die Kontroverse geht jedoch nicht erst auf die aktuelle Krise zurück: Bereits im letzten Jahr hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) die Schweiz aufgefordert, mehr zu investieren, um ihre Wirtschaft zu stützen.

Und seit fast einem Jahrzehnt schon fordern linke ParteienExterner Link, bisher vergeblich, einen Kurswechsel in der Fiskalpolitik; sie werfen der rechten Mehrheit in Parlament und Regierung vor, in Zeiten der Hochkonjunktur Sparmassnahmen durchzusetzen – mit dem einzigen Ziel, den Staat zu schwächen.

Diese Debatte wird das politische Leben der Schweiz noch stark prägen, wenn es darum gehen wird, die Konten auszugleichen, die Rechnung für diese beispielslose Gesundheitskrise zu begleichen.

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