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Covid-Krise: Die Polarisierung wird zur Sorge Nr.1 der Schweiz

Demo gegen Ausweitung der Covid-Zertifikat, am 8.September in Bern. Keystone / Marcel Bieri

Die Impfbereitschaft in der Schweiz stagniert, die zunehmende Polarisierung bekümmert die Bevölkerung, und ein Bundesrat stürzt ins Umfragetief. Das und mehr zeigt der neue Corona-Monitor der SRG SSR.

Einen Monat, bevor die Schweiz zum zweiten Mal über das umstrittene Covid-19-Gesetz – und damit insbesondere die geltende Zertifikatspflicht – abstimmt, hat die Forschungsstelle Sotomo im Auftrag der SRG SSR die Bevölkerung umfassend zur Pandemie und ihren Auswirkungen befragt.

An der nunmehr siebten Datenerhebung zum Thema haben sich über 59’000 Schweizer:innen beteiligt, davon 42’000 aus der Deutschschweiz, 15’000 aus der Romandie und knapp 2000 aus der italienischsprachigen Schweiz. Ihre Antworten wurden statistisch gewichtet, die Fehlerquote liegt bei +/- 1,1 Prozentpunkten.

Die Resultate zeigen ein Volk, das auf dem Weg zur Normalisierung wäre, verliefe nicht ein tiefer Graben durch die Schweiz – ein Land, das mit nur 64 Prozent vollständig geimpften Personen zu den Schlusslichtern in Europa gehört (aktuelle Statistiken finden Sie hier), ein Land aber auch, in dem eine Mehrheit wieder näher zusammenrücken und sich ein Küsschen schenken will – wie die Übersicht über die Ergebnisse zeigt.

#Die Befürworter

Anders als bei der letzten Befragung spricht sich aktuell eine Mehrheit für eine Impflicht für das Gesundheits- und Pflegepersonal aus: 57 Prozent sind dafür. 52 Prozent würden zudem einer Impfpflicht für Lehrpersonen zustimmen.

Das Covid-Zertifikat unterstützen 62 Prozent der Bevölkerung. Eine Ausweitung des Geltungsbereichs, etwa auf Skigebiete, wird hingegen von einer Mehrheit abgelehnt. Das Skifahren in der Schweiz soll auch nach dem Willen des Bundesrat und Bergbahnbranche mit Abstand und Maske, aber ohne Zertifikat stattfinden. So wie schon im letzten Jahr.

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Trotz mehrheitlicher Zustimmung: 79 Prozent der Bevölkerung finden, dass es sich beim Zertifikat um einen indirekten Impfzwang handle, das sind 10 Prozent mehr als bei der letzten Befragung. 46 Prozent sind der Ansicht, dass das Zertifikat dort, wo es verlangt wird, mehr Freiheit mit sich bringt, 32 findet den Umgang damit mühsam.

Gross ist das Interesse an der Booster-Impfung, 48 Prozent befürworten diese, weitere 10 Prozent sind eher dafür. Auch bei der Abschaffung der Gratis-Covid-Tests ist die Mehrheit mit der Politik der Behörden einverstanden. 59 Prozent unterstützen die im Oktober eingeführte Massnahme.

#Die Gegner

In der Impfskepsis und Massnahmenkritik finden die unterschiedlichsten Gruppen zueinander, zumindest statistisch auch die nationalkonservative SVP und Migrant:innen aus dem Balkan. In beiden Gruppen ist die Impfskepsis nämlich auffallend stark verbreitet, wobei Personen aus Südosteuropa respektive aus dem Balkan mit 52 Prozent immer noch eine höhere Impfquote haben als die Basis der SVP mit 42 Prozent.

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Generell sind Frauen, Menschen mit tiefem Einkommen und bildungsferne Personen der Impfung gegenüber eher ablehnender eingestellt. Umgekehrt wird die Impfung von Männern, Grossverdiener:innen und Personen mit akademischer Bildung stärker befürwortet.

Schauen Sie hier die SWI Arena zum Covid-Gesetz:

#Die Angst

Nur 6 Prozent der Bevölkerung und damit ein Viertel der Ungeimpften zieht eine Impfung überhaupt noch in Betracht. Wichtigster Grund für den Verzicht sind die Angst vor Impfschäden sowie der Glaube an die eigenen Abwehrkräfte. Fast 70 Prozent der Ungeimpften zweifeln  an der Wirkung der Impfung. 15 Prozent fürchten, ihre Fruchtbarkeit zu verlieren, wofür es keine medizinischen Anzeichen gibt. Immerhin 12 Prozent geben an, sie hätten sich auf ärztlichen Rat nicht impfen lassen.

Umstimmen lassen würden sich die Befragten am ehesten, wenn sie Vertrauen in die Impfung schöpfen könnten, 47 Prozent machen diese Aussage. Das klingt konsequent. Allerdings ist der Anteil derer, die sich impfen wollen, wenn das Leben ohne Zertifikat zu mühsam wird, mit 44 Prozent fast ebenso hoch.

#Die Spaltung

Dass es in der Schweiz zu gesellschaftlichen Verwerfungen kommt, ist aktuell die grösste befürchtete Folge der Pandemie. In den letzten Wochen und Monaten haben Massnahmengegner:innen in vielen Städten der Schweiz demonstriert, und nicht immer blieb die Situation friedlich. Wie vergiftet das Klima ist, zeigte vor ein paar Tagen eine Grosskundgebung in Bern: Sogar um die Zahl der Protestierenden ist ein öffentlicher Streit entbrannt.

Auch im Privatleben kommt es zu Verwerfungen. So fürchtet sich fast jede zweite Person vor privaten Konflikten, eine Verdoppelung gegenüber den früheren Umfragen. Der Umgangston sei aggressiver geworden, stellen 41 Prozent der Befragten fest. 71 Prozent gaben an, dass sie über Corona-Massnahmen im privaten Umfeld gestritten haben. 31 Prozent haben Kontakte abgebrochen. Dabei sind Ungeimpfte klar mehr Spannungen ausgesetzt als Geimpfte.

#Der Verlierer

Schaden nimmt auch das Vertrauen in die politischen Institutionen in der Schweiz. Das oberste exekutive Organ, der siebenköpfige Bundesrat, der sich in der Schweiz aus verschiedenen Parteien zusammensetzt und gemeinsam über Massnahmen entscheidet, erhält fast durchgehend ungenügende Noten. Bei einer Skala von 1 bis 6 also Noten von unter 4.

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Was auffällt: Am besten, und mit 4,1 knapp genügend, schneidet mit dem Sozialdemokraten Alain Berset der Gesundheitsminister ab. Am schlechtesten der in der Pandemie kaum sichtbare, aber 2021 im Europadossier gescheiterte Liberale Ignazio Cassis ab.

Eigentlicher Verlierer der letzten Wochen ist aber Wirtschafsminister Ueli Maurer der rechtskonservativen SVP. Er hatte sich an einem öffentlichen Anlass im «Trychlerhemd» gezeigt, einem Symbol der Massnahmeskeptiker:innen und gegen die Politik seiner Bundesratskolleg:innen Stimmung gemacht. Ein Störfeuer, das über die Schweiz hinaus Schlagzeilen produzierte und offenbar von der Bevölkerung mehrheitlich nicht goutiert wurde. Sie gibt Maurer noch die Note 3,3.

#Das Leben

Wie nachhaltig die Spuren sind, welche die Pandemie in unserem Leben hinterlässt, ist im Moment noch Spekulation. Einen vorläufigen Blick in die Zukunft erlaubt die Befragung dennoch. So glauben zum Beispiel nur 10 Prozent, das sie auch nach der Pandemie noch häufiger das Velo benutzen werden als davor. Derselbe Wert ergibt sich fürs Auto.

Hingegen scheint die Zeit leichtfertiger Reisen auf Geschäftskosten vorbei. Das deckt sich mit den Sympathien für elektronische Meetings, über 40 Prozent erwarten, dass diese nach der Pandemie mehr Gewicht haben werden. Eine überwiegende Mehrheit wünscht sich zudem, auch nach der Krise zumindest teilweise im Homeoffice weiterzuarbeiten.

#Die Küsschen

Kein Händeschütteln, keine Küsschen hiess es am Anfang der Pandemie. Der Ratschlag zum Social Distancing wird seit Verfügbarkeit der Impfung aber immer weniger konsequent befolgt. Den grössten Nachklang hatte bisher die Aufforderung, auf Küsschen zu verzichten, je nach Region in der Schweiz wären zur Begrüssung eigentlich deren zwei oder drei gebräulich.

Nun gibt aber eine Mehrheit an, nach der Pandemie zum Küsschen-Regime zurückkehren zu wollen. Am stärksten ist das Verlangen danach bei den 14 bis 34-Jährigen. Ein deutlicher Unterschied ergibt sich ausserdem geografisch: Im Tessin und Romandie ist man weniger zum immerwährenden Küsschen-Verzicht bereit als in der Deutschschweiz.

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