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Neutralität – hat der Schweizer Weg ausgedient?

Immer drängender stellt sich der Schweiz die Frage: Ist ihr Modell noch haltbar? Wir haben darüber diskutiert – bei Let's Talk.

Seit Russland die Ukraine überfallen hat, wird die Schweizer Neutralität angegriffen. Angesichts des internationalen Drucks ist die Position der Schweiz kaum noch haltbar, meinen der Historiker Sacha Zala und die politische Philosophin Katja Gentinetta.

Denn die Schweiz ist in einer heiklen Lage. Sie ist Teil des Westens. Dort hat sie sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine positioniert – etwa mit Sanktionen gegen Russland. Jetzt will der Westen Schweizer Waffen an die Ukraine weitergeben. Die Frage, ob sich das mit der Neutralität verträgt wird den Wahlkampf dieses Jahr prägen.

Die politische Philosophin Katja Gentinetta spricht von einem historischen Dilemma. «Auf der einen Seite ist die Schweiz Teil der UNO und bekennt sich zum modernen Völkerrecht , das Angriffskriege verurteilt. Auf der anderen Seite stützt sie sich weiterhin auf die Haager Konventionen von 1907, die eine Summe der Erkenntnisse aus dem 19. Jahrhundert darstellen», analysiert sie. Katja GentinettaExterner Link ist Politik- und Wirtschaftsphilosphin sowie Herausgeberin zahlreicher Bücher zur Schweizer Aussenpolitik.

«Das Konzept ist schwammig»

Für Sacha Zala ist die Schweizer Neutralität ein Kristallisationspunkt unzähliger Ansprüche und Bedürfnisse. «Die Zustimmungsrate von 96%, welche die Neutralität vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine hatte, bedeutet nur eins: Dass das Konzept so schwammig ist, dass man darunter verstehen kann, was man will.» Zala ist Geschichtsprofessor an der Uni Bern und Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der SchweizExterner Link

Dass sie so diffus sei, mache die Diskussion über die Neutralität so schwierig. «Sie ist die Klammer, die das Land zusammenhält. Doch dann gibt es eine quasireligiöse Dimension: Die Schweiz hat über zwei Weltkriege keine Invasion erlebt. Neutralität hat in diesem Sinne funktioniert», sagt er.

Gute Dienste «masslos überschätzt»

Die internationale Ausstrahlung, welche die Neutralität der Schweiz verliehen hat, war laut Katja Gentinetta zu gewissen Zeiten sehr wichtig. «Es ist aber nicht so, dass Genf die einzige Stadt ist, die internationale Organisationen beherbergt.»

Für Sacha Zala werden die Guten Dienste der Schweiz «masslos überschätzt», sie seien Teil eines Rechtfertigungsdiskurses. Aber: «Das Narrativ, die Schweiz solle sich aufopfern, damit einer auf Erden Frieden zwischen die Streithähne bringen kann, ist nicht von dieser Erde.» Und schliesslich gebe es «immer massive Kritik, wenn der Neutrale seine Position ausnützt, um Handel zu treiben.»

Ein wirtschaftspolitisches Instrument?

Katja Gentinatta ergänzt: «Die Neutralität ist nicht nur ein aussenpolitisches Instrument und nicht nur – primär – ein sicherheitspolitisches Instrument, sondern sie wird von einigen sogar als wirtschaftspolitisches Instrument missbraucht.» Sie glaubt, dass das heute nicht mehr akzeptiert wird: «Im Inland nicht mehr, im Ausland nicht mehr und auch nicht mehr von allen Unternehmen.»

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Gastgeber/Gastgeberin Balz Rigendinger

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«Wir können uns diese Diskussion leisten, weil wir faktisch durch die Nachbarn geschützt sind. Die Frage ist, ob diese uns in Zukunft auch tatsächlich schützen, wenn wir ihnen jetzt jegliche Solidarität verweigern, und diese Frage haben wir in unserem Land noch nicht wirklich diskutiert», sagt Katja Gentinetta.

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