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Der Krieg der Frauen

Keystone / Roman Pilipey

Fern von Brutalität und Bomben begegnen wir in Genf drei Ukrainerinnen - sie erzählen ihre Geschichten.

In Kiew fällt die Temperatur nachts oft auf minus 10 Grad. In Genf zeigt das Thermometer in diesem Winter meist Werte über Null an, auch wenn es schneit.

Donetsk im Dezember: Ein russischer Angriff hat ukrainische Transformatoren zerstört. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved

Von Kiew nach Genf muss man sieben Polizeikontrollen passieren und drei Gefahrenzonen durchqueren.

Genf im Januar. Ein milder Winter in einem friedlichen Land. © Keystone / Salvatore Di Nolfi

Tatjana hat dafür weniger als 48 Stunden gebraucht, sie ist gross gewachsen, blond, 55. «250 Euro, und ich bin in der Schweiz», sagt sie. Sie lächelt. Aber hinter ihrem Lächeln verbirgt sich ein Albtraum. Temperaturunterschiede.

Bereits zum zweiten Mal hat Tatjana ihre Heimat verlassen. 2009 zog sie aus dem Donbass, wo sie aufwuchs, nach Kiew. Dort arbeitete sie als Lehrerin für russische Sprache und Literatur. Nach Kriegsausbruch verliess sie die Ukraine.

Jetzt lebt sie in der Schweiz, eine Ukrainerin, die klassische russische Autoren zitiert. Seit dem Krieg mag das Menschen im Westen erstaunen. Ukrainer:innen schockiert es gar. Tatjana spricht gerne russisch. Eine andere Ukrainerin in Genf beschimpfte sie dafür als Landesverräterin. Eiskalt.

Es gab neue Bekanntschaften, und sie konnte gar Freundschaften schliessen. Die Schweiz erlebt sie als ein Land mit warmem Herz.

«Meine Meinung über den Krieg ist nicht die, welche die Leute im Westen zu hören gewohnt sind», sagt sie. «Putin und seine Clique sind nicht die einzigen Schuldigen an diesem Krieg», erzählt sie mir. Sie mache auch der ukrainischen Führung Vorwürfe, Selenski  und dessen Vorgängern im Präsidentenamt: Poroschenko und Janukowitsch.  «Aber niemals würde ich einen anderen Staat zu Hilfe bitten, und sich in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen.»

Viele Russen, sagt sie, würden den Krieg nicht unterstützen. «Und darum werde ich meinen Draht zur russischen Kultur nicht kappen.» Sie fühlt sich darin geborgen. Wärme.

In der Schweiz erhielt Tatjana den sogenannten Schutzstatus S. Das bedeutet Sozialversicherung sowie Geld für Unterkunft und Verpflegung. Sie kann auch die öffentlichen Verkehrsmittel gratis benutzen und französisch lernen. Es gab neue Bekanntschaften, und sie konnte gar Freundschaften schliessen. Die Schweiz erlebt sie als ein Land mit warmem Herz.

Überall nur kalte Schultern

Ihr Sohn zog 2014 aus dem Donbass nach Kiew. «Wenn er nur ein Prozent von dem erhalten hätte, was ich hier habe.» Tatjana wedelt mit ihren Händen vor den Augen wie mit einem Fächer, wie wenn das Tränen trocknen könnte … Als ihr Sohn mit seiner Familie in Kiew ankam, wurden sie beschimpft, weil sie Russisch sprachen. Er konnte zwar eine Wohnung mieten. Aber man vergrämte ihn, und Arbeit konnte er nie finden, überall nur kalte Schultern.

Die Leute sahen in ihm einen Donbass-Separatisten. Er kehrte in den Osten der Ukraine zurück. Nicht russische Soldaten haben ihn getötet, es waren ukrainische, im März 2022. In der russisch-orthodoxen Kirche der Altstadt von Genf zündet Tatjana eine Kerze an für seine Seele.

Kerzen in einer Schweizer Kirche (Symbolbild). Keystone / Alessandro Della Bella

Tatjana ging, um nicht den Verstand zu verlieren. In die Schweiz, weil sie hier Freunde hat. «In den ersten Wochen lag ich tagelang im Bett», sagt sie. Sie konnte nicht essen, nicht trinken und nicht sprechen.

Der Krieg der Männer

Tatjanas Mann aber blieb in Kiew. Er kann das Land nicht verlassen, weil der Krieg die Männer braucht. Ihre Tochter ist ebenfalls in der Ukraine, sie arbeitet in Kiew in einem Militärspital. Dann, wenn sie Strom und Internet haben, treffen sich die drei Familienmitglieder im Videochat, auch das wärmt ein wenig für kurze Zeit.

Viktoria Voytsitska. / Annachubai

Etwa zeitgleich mit Tatjana K. kamen zwei junge Frauen aus der Ukraine für einen kurzen Besuch in Genf an: Olena Halushka, 32, die derzeit in Warschau lebt, und Viktoria Voytsitska, 48, aus Kiew. Olena ist ehemalige Journalistin und Mutter eines zweijährigen Kindes. Um dieses in Sicherheit zu bringen, verliess sie die Ukraine in den ersten Kriegstagen.

Viktoria ist ehemalige Abgeordnete, während ihrer Amtszeit war sie Vorsitzende des Ausschusses für Energie- und Atompolitik im ukrainischen Parlament. Beide arbeiten heute für das «Internationale Zentrum für den ukrainischen Sieg». Wir trafen uns unweit des UNO-Komplexes in Genf.

«Die Schweiz muss sich entscheiden»

Gekommen sind sie, um Schweizer Entscheidungsträger:innen zu treffen, Regierungsmitglieder und Abgeordnete. Mit ihnen wollen sie über den Schutz der Energieinfrastruktur der Ukraine sprechen. Und Unterstützung in Sachen Luftabwehr wollen sie organisieren. Olena Halushka sagt: «Die Schweiz muss Deutschland erlauben, Munition für die Gepard-Panzer zu liefern.»

Olena Halushka. / Annachubai

Russland bombardiert weiterhin strategische Infrastruktur. Odessa, Lwiw, Mykolajiw, Winnyzja, Tschernihiw – alle Regionen sind im Visier. Und alle Luftabwehrsysteme reichen bisher nicht. Die russischen Raketen töten weiterhin Menschen, lassen ganze Gebiete ohne Heizung und Strom zurück, oder ohne Unterkünfte. «Die Schweiz muss gewisse Entscheidungen treffen», sagt Olena.

Einige Schulen in der Ukraine haben Stromaggregate und Luftschutzbunker, aber die meisten können sich das nicht leisten. Die Schule, in der Viktorias Tochter lernt, konnte ein Stromaggregat kaufen, für 10’000 Euro. Es ist eine halbprivate Schule, die Eltern haben sich auch am Kauf beteiligt.

In der Ukraine kommt die Dämmerung um 16.30 Uhr, um 17 Uhr ist es dunkel. In vielen Städten gibt es weder Heizung noch Strom. Viele Schulen haben auf Fernunterricht umgestellt, aber ohne Strom und während der Bombenangriffe muss man den Unterricht vergessen.

«Wir werden versuchen, die Schweizer Politiker davon zu überzeugen, die Position des Landes zu überdenken», sagt Olena Halushka. Es gehe um Waffen, welche die Zivilbevölkerung vor dem russischen Terrorismus zu schützen.

Viktoria Voytsitska sagt, die Ukraine brauche auch elektrische Transformatoren. Mehrere grosse Unternehmen wie Hitachi und GE produzieren ihr zufolge in der Schweiz und könnten helfen. Aber selbst wenn Kiew für die Lieferungen zahlt, ist das nicht einfach. Die Hersteller haben ihre Auftragsbücher gefüllt. «Sie sagen, dass sie keine aussergewöhnlichen Aufträge annehmen können, da sie ihren Verpflichtungen gegenüber anderen Kunden nachkommen müssen», erzählt sie.

Olena hat den Kontakt abgebrochen. Ihr Bild der Russen hat sich gefestigt.

Die Ukrainer wären sogar bereit, gebrauchte oder sogar ausgediente Transformatoren zu kaufen. «Wir haben bereits eine Lieferung von zwei 750-kV-Transformatoren geplant», sagt sie. Das seien zwei wirklich grosse Maschinen, die von einem der baltischen Staaten geliefert werden. Von welchem Land genau, das will sie nicht verraten.

Die beiden Frauen touren mit ihrem Anliegen durch Europa. Haben sie dabei auch Russen getroffen, die der Ukraine helfen wollten? Nein, lautet die eindeutige Anwort. Olena Halushka hat bereits 2014 den Kontakt zu ihren russischen Bekannten abgebrochen. Ihr Bild der Russen hat sich gefestigt. «Selbst die liberalen Russen glauben ernsthaft, dass Russland die Krim rechtmässig eingenommen hat», sagt sie finster.

«Aber viele Russen betrachten die Angliederung der Krim als Annexion und im aktuellen Krieg wünschen sie sich einen Sieg der Ukraine», sage ich.

Olena antwortet: «Die russische Gesellschaft unterstützt diesen Krieg.» Selbst den liberalen Russen merke man dies an. «Du hast sicherlich den Skandal um dem Fernsehsender Dojd verfolgt», sagt sie mir.

Generatoren von den Russen

Ja, und fast alle in Russland kennen die Geschichte. Im Dezember 2022 rief ein Journalist des kremlkritischen Exil-Senders dazu auf, «den Russen, die an der Front sind, Ausrüstung zu liefern». Dieser Journalist verlor noch am selben Tag seinen Job. Der Sender verlor auch seine Lizenz in Lettland, von wo er arbeitete. Die Redaktion musste sich entschuldigen.

Dojd setzte seine Tätigkeit auf Youtube fort. In der Neujahrssendung vom 31. Dezember 2022 sammelte der Sender 120’000 Euro an Spenden für den Kauf von Stromaggregaten für die Ukraine. Licht und Wärme für ein kriegsversehrtes Land. Für Familien. 

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