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Letícia Vargas Bento: “Wir sind an einem Punkt gelangt, wo Gruppen ihre Privilegien verlieren”

Brasilianische Flaggen an einer Demonstration
Anhänger:innen von Jair Bolsonaro feiern am 28. Oktober 2018 seine Wahl ins Präsidentenamt. Gemäss Umfragen führt momentan der Ex-Präsident Lula. Keystone / Antonio Lacerda

Der brasilianische Wahlkampf läuft auf Hochtouren, die Widersacher Jair Bolsonaro und Lula könnten kaum unterschiedlicher sein. Ein Gespräch mit Letícia Vargas Bento von der Universität St. Gallen über die Polarisierung im Land.

swissinfo.ch: Am 2. Oktober läuft die erste Runde der Wahlen um die brasilianische Präsidentschaft. Wie ist die Stimmung im Land?

Letícia Vargas Bento: Die Menschen sind müde und ausgelaugt. Wir leben schon seit 2016 in einer Situation starker Polarisierung, die eigentlich bereits 2013 mit den grossen Protesten gegen die WM begannen. Es herrscht schon länger das Gefühl, dass unsere Demokratie gefährdet ist und dass jederzeit etwas geschehen könnte, ein diffuses Gefühl der Unsicherheit.

In den 2000er-Jahren schauten wir noch optimistisch in die Zukunft, heute herrscht wieder Armut und Unsicherheit, es gibt Menschen, die Hunger leiden. Auch der Wahlkampf ist ermüdend, die Leute sehnen sich einfach nach Sicherheit und besseren Lebensbedingungen.

Letícia Vargas Bento doktoriert an der Universität St. Gallen zu Impact Investing in Brasilien und arbeitet am Centro Latinoamericano-Suizo de la Universidad de San Gallen. Zuvor arbeitete sie für die föderale Regierung des brasilianischen Bundesstaates Minas Gerais.

Leticia Vargas Bento
Leticia Vargas Bento doktoriert an der Universität St. Gallen. zVg

Es gibt Angst vor Ausschreitungen nach der Wahl. Wie steht es um die Demokratie im Land?

Diese Angst besteht sogar während dem Wahlkampf. Ich möchte glauben, dass unsere Demokratie und unsere Institutionen stark genug sind, um Gefahren abzuwehren. Aber die Wahrheit ist: Ich weiss es nicht.

Der amtierende Präsident Jair Bolsonaro sät Zweifel am Wahlsystem, streut Gerüchte, spricht von Manipulationen, obwohl es keine Hinweise dafür gibt. Damit entsteht ein beklemmendes Klima, ein Gefühl, das etwas Gefährliches lauert.

Bolsonaro attackiert die Wahlbehörden, die Gerichte – bei ihm ist Kritik an den Institutionen Programm. Wie viel davon hat er von Donald Trump kopiert?

Er bewundert Trump, daraus hat er nie einen Hehl gemacht. Bolsonaro hat sich immer positiv über dessen Stil geäussert und er hat dafür gesorgt, dass das auch die Öffentlichkeit mitbekommt. Aber es ist nicht nur er: Seine ganze Familie macht da mit, die ja ebenfalls wie Trumps Familie in Regierungsgeschäften mitmischt.

Es gibt ja durchaus auch Parallelen: Beide sind Rechtsaussen-Politiker, die scheinbar aus dem Off an die Macht kamen. Wie war das möglich?

Das war auch in Brasilien eine Überraschung. Nur wenig vor seiner Wahl zum Präsidenten schien es kaum möglich, dass ein solcher Politiker das höchste Amt des Landes kriegen könnte.

Eine einfache Antwort darauf gibt es wohl nicht. Wie bei Trump werden auch an Bolsonaros Person grosse Widersprüche sichtbar: Er geriert sich als unkorrumpierbar, hat aber zahlreiche Korruptionsskandale am Hals. Er preist konservative Werte und das traditionelle Familienbild an, lebt aber in dritter Ehe und hat eine Ex-Frau zu einer Abtreibung gedrängt. Das sind Dinge, die seine Unterstützer:innen übersehen. Das Spiel mit der Polarisierung wird aber auch von der anderen Seite gespielt. Bolsonaro wird als Faschist beschimpft und seine Anhänger:innen als Faschisten.

So einfach ist das aber nicht. Ich denke wir sind an einem Punkt angelangt, wo Gruppen ihre Privilegien verlieren und mit der Wahl eines Bolsonaro reagiert haben. Der politische Feminismus fordert die Machokultur des Landes heraus, es gibt Quotenregelungen für schwarze Brasilianer:innen an den Universitäten etc. Die brasilianische Gesellschaft ist seit jeher klassenbewusst und nun sehen die alten Eliten ihre Privilegien erodieren.

Eine Gegenreaktion auf die Ausweitung der politischen Inklusion?

Genau. Etwas davon geht zurück auf die grossen Sozialprogramme, die unter seinem Vorgänger Lula aufgegleist wurden. Aber es hat auch mit weltweiten Strömungen zu tun, dem Feminismus, dem Rückgang der Religiosität, den Rassismus-Debatten. Das ist nicht spezifisch brasilianisch.

Wie sehen Sie die Rolle der evangelikalen Kirchen, die in Brasilien einen immer grösseren Einfluss haben?

Der Katholizismus ist in den letzten drei Jahrzehnten stark zurückgegangen, ich glaube heute gehören etwa ein Drittel der Bevölkerung einer evangelikalen Kirche an. Allein zahlenmässig sind sie also sehr stark geworden. Und sie sind tatsächlich auch politisch sehr aktiv, gehen strategisch vor und sind international stark vernetzt – nicht nur in den USA und Lateinamerika, sondern auch in Afrika.

Sie vertreten ein sehr konservatives Weltbild, sehen sich in einem Kampf gegen progressive Kräfte und sind damit Verbündete von Bolsonaro. Die Basis stellt sich vielleicht nicht uneingeschränkt hinter Bolsonaro, dafür sind sie zu divers. Aber ihre Anführer auf jeden Fall. Damit sind sie als Wählersegment sehr wichtig.

Lula ist nun zurück. Was sagt das über Brasilien aus?

Das wir es als Gesellschaft nicht geschafft haben, neue Persönlichkeiten mit dem Charisma und der Beliebtheit des früheren Lula hervorzubringen. Viele, die dieses Jahr für ihn stimmen werden, tun das, um Bolsonaro wegzuwählen, nicht weil sie vorbehaltlos zu Lula stehen.

Lula zehrt natürlich von der Vergangenheit. Brasilien hatte unter Lula einen anderen Status und wurde weltweit positiv wahrgenommen, seither ist unter Selbstbewusstsein gesunken. Wir sind nostalgisch und vermissen die guten alten Zeiten. Lula erinnert die Leute daran, wie es damals war: Man konnte stolz auf Brasilien sein. Das sind wir heute nicht mehr.

Trägt aber nicht Lula auch Schuld an der Polarisierung? Die grossen Korruptionsskandale unter seiner Regierung haben viele verbittert und in die Arme von Bolsonaro getrieben, nicht?

Klar. Das Ding mit der Korruption in Brasilien aber ist, dass sie sehr unterschiedlich behandelt wird. Korruption gab es unter Lula, es gibt sie auch unter Bolsonaro. Was unterscheidet sie nun? Als Lulas Arbeiterpartei an der Macht war, wurde immerhin dagegen ermittelt, das ist heute nicht mehr der Fall.

Brände, Rodungen und illegaler Holzschlag: Die Lage im Amazonas macht im Ausland Schlagzeilen. Was für eine Rolle spielt sie im Wahlkampf?

Eine geringe. Wenn man nicht vom Amazonas stammt, berührt einem das Thema im Alltag kaum. Junge Leute sind noch eher um Nachhaltigkeit und Umweltschutz bemüht, aber die Probleme im ganzen Land sind sehr gross. Die ökonomischen Unsicherheiten machen einem das Leben schwer – und der Amazonas für die meisten Leute weit weg von ihrem Alltag.

Was die momentane Regierung nicht versteht, ist eben die internationale Bedeutung des Amazonas: 80% davon liegen in Brasilien, aber was dort passiert hat Auswirkungen auf die ganze Welt. Das ist generell ein Problem: Die Arbeiterpartei ging damals methodisch vor, leitete grosse Sozialprojekte ein und hatte langfristige Ziele für das Land. Man mag damit einverstanden sein oder nicht, sie hatten immerhin Visionen. Das ist unter Bolsonaro nicht mehr der Fall – es gibt keine Strategie mehr, keine klaren Ziele, ausser einer Rückkehr der Verhältnisse zu so wie es früher war.

Sie forschen zu Impact Investing. Wie sieht das in Brasilien aus?

Impact Investing bezeichnet Investitionen, die nicht nur auf finanzielle Rendite abzielen, sondern auch auf eine positive soziale oder ökologische Wirkung. In den letzten Jahren hat diese Art von ethischem Investment stark zugelegt, auch in Brasilien. Es ist sehr interessant zu sehen, wie mit klassischem kapitalistischem Vorgehen entwicklungspolitische Impulse ausgelöst werden. Und das selbst in einem Land, das wie Brasilien krisenanfällig ist.

Die Schweiz spielt da eine führende Rolle, gemäss Schätzungen wird ein Drittel aller solcher Investitionen in der ganzen Welt von hier aus verwaltet. Ich erwarte, dass sich die Schweizer Investitionen in Brasilien künftig steigern werden, das Land ist nämlich trotz aller Probleme weiterhin attraktiv in dieser Hinsicht.

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