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Gesetz der Berge gegen Gesetz der Menschen

Februar 1999: Lawinen-Katastrophe in Evolène, Kanton Wallis. Keystone

Nach den Verurteilungen im Prozess um die Lawinen-Katastrophe von Evolène gärt es unter den Berufsleuten der Berge.

Das Ausmass der Schneemassen, die im Februar 1999 12 Personen töteten, war überhaupt nicht vorhersehbar gewesen.

“Als Bergführer sage ich Ihnen, dass die Natur uns noch viele solche unvorhersehbare Fälle bescheren wird”, beteuert Charly Wuilloud, Sektionschef des Dienstes Wald und Landschaft des Kantons Wallis.

“Der Fall von Evolène war vollkommen unvorhersehbar. Und wenn sich etwas Unvorhersehbares ereignet, kann man nicht die Leute beschuldigen, falsch reagiert zu haben”, fügt der Mann an, den man im Wallis “Monsieur Avalanches” nennt.

“An jenem Tag schloss man einige Chalets und evakuierte bestimmte Gebiete”, erinnert sich Robert Bolognesi, der Direktor von Météorisk, einer Organisation, die sich auf Lawinenprävention spezialisiert hat. “Aber niemand konnte sich vorstellen, dass eine Lawine so weit hinunter kommen könnte. Sie ging gar über die auf den Lawinenkarten eingezeichneten Gebiete hinaus.”

Und die Strasse, auf der zwei einheimische Kinder ums Leben kamen, hatte man, so weit er sich erinnert, noch nie wegen Lawinengefahr schliessen müssen.

Am 21. Februar 2005 verurteilte das Gericht des Amts Hérens-Conthey André Georges, den Sicherheitsverantwortlichen, und Pierre-Henri Pralong, den Gemeindepräsidenten von Evolène, wegen fahrlässiger Tötung zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zwei, beziehungsweise drei Monaten.

Eine andere Welt

Wenn man bedenkt, dass es Naturgewalt ist, die ein solches Verhängnis auslösen können, scheinen die Aussagen der Opferanwälte für diese Berufsleute besonders schockierend. Als er eines der Plädoyers hörte, fühlte Charly Wuilloud, “dass wir nicht in der gleichen Welt leben”.

Und Wuilloud weiter: “Wir haben nicht die gleiche Kultur, nicht einmal mehr die gleiche Religion. Dieser Jurist ist nichts anderes als ein Mathematiker, der glaubt, alles mit Simulationen berechnen zu können. Wir aber leben mit einer Natur, die nicht immer beherrschbar ist.”

Auch die Reaktionen in Evolène, welche die Télévision Suisse Romande am Tag nach dem Urteil zu hören bekam, zeigen eine ziemlich grosse Empörung. “Das ist, als ob man Schuldige suchen würde für die Erdbeben in Iran oder den Tsunami in Südasien”, stellt eine Dorfbewohnerin fest.

“Die Leute sind wirklich aufgebracht”, bestätigt Robert Bolognesi. Das Urteil wurde zweimal gefällt, einmal durch die Natur, das zweite Mal durch die Justiz. Natürlich hat die Bevölkerung grosse Mühe, das zu verstehen.”

Es gärt

Als Präsident der Vereinigung der Sicherheitschefs der Westschweiz und des Tessins weiss der Direktor von Météorisk genau, wie gross die Bestürzung über das Urteil bei jenen Leuten ausgelöst hat, die sich in den Bergen um die Sicherheit kümmern.

Diese denken nun über punktuelle Aktionen wie Streiks oder einen gemeinsamen Rücktritt nach. Welche Folgen das mitten in der Wintersaison haben könnte, kann man sich vorstellen.

Über 120 von den 153 Gemeinden des Wallis sind durch Naturgefahren wie Lawinen, Erdrutsche, Steinschläge oder Überflutungen gefährdet.

Alle Gemeinden und alle Seilbahngesellschaften haben deshalb ihre eigenen Sicherheitschefs. Diese haben eine schwierige Aufgabe, die oft gefährlich ist und schlecht bezahlt wird (zwischen 12’000 und 15’000 Franken pro Winter).

“Das ganze System mit den Leuten, die morgens um vier Uhr aufstehen, um Lawinen zu sprengen, funktioniert nur, weil die Leute an das glauben, was sie tun, und weil sie es gut machen wollen”, hält Bolognesi fest. “Wie sollen sie denn nun weiter arbeiten, wenn sie wissen, dass sie eines Tages vor Gericht stehen könnten?”

Der unvorhersehbare Teil

Die Androhung von Strafen scheint Wuilloud dagegen nicht zu beeindrucken.
“Wir sind alt genug, um sagen zu können, dass wir gewisse Tätigkeiten übernommen haben, und dass wir diese dank unserer Erfahrung erledigen können”, meint “Monsieur Avalanches”.

Würde er seine Tätigkeit aufgeben, würde er seiner Meinung nach Schwäche zeigen. Das sei inakzeptabel. “Die Leute wissen, wie sie ihre Arbeit zu tun haben, und sie tun sie anständig. Wir schicken sie in Kurse, wir beobachten die Schneedecke das ganze Jahr über”, ruft Wuilloud in Erinnerung.

Trotzdem bleibt immer ein Teil unvorhersehbar. “Damit müssen wir leben, das müssen wir akzeptieren. Man kann nicht alles beherrschen”, schliesst Wuilloud.

swissinfo, Marc-André Miserez
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Im Februar 1999 herrscht in den Alpen ein winterliches Chaos. In der Region gehen in diesem Monat insgesamt 800 Lawinen nieder, oft an ungewohnten Orten.

Am 21. Februar, gegen 20.30 Uhr, reissen zwei Pulverschnee-Lawinen fünf Chalets mit sich und töten zwischen La Sage und Villa, in der Gemeinde Evolène, 12 Personen.

Unter den Opfern sind zwei einheimische Kinder, aber auch die Frau, die Tochter, der Schwiegersohn, der Enkel und ein Freund von Jean-Louis Combes, einem französischen Beamten aus Caen. Sie werden unter den Trümmern ihres Ferienhauses begraben.

Combes und der Besitzer des Chalets reichen Klage ein. Im Mai 2000 wird ein gerichtliches Verfahren gegen André Goerges, den Sicherheitsverantwortlichen, und Pierre-Henri Pralong, den Gemeindepräsidenten von Evolène, eingeleitet.

Am 21. Februar 2005 verurteilt das Gericht des Amts Hérens-Conthey André Georges und Pierre-Henri Pralong wegen fahrlässiger Tötung zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zwei, beziehungsweise drei Monaten.

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