Bezirksgericht Zürich spricht Tramfahrer nach tödlichem Unfall frei
Das Bezirksgericht Zürich hat einen Tramfahrer nach einem tödlichen Unfall freigesprochen. Der 55-Jährige fuhr einen 85-jährigen Touristen an, der später im Spital verstarb. Den Unfall hätte er laut Gericht nicht verhindern können.
(Keystone-SDA) Die ganze Situation um den verstorbenen Mann tue ihm leid, sagte der 55-jährige Tramfahrer in seinem Schlusswort. Einen Fehler habe er aber nicht gemacht.
Das sah auch das Gericht so. Der Tramchauffeur habe richtig reagiert, hielt der Richter bei der Urteilseröffnung fest. Die Situation in Zürich berge mit den vielen Trams von sich aus schon etliche Gefahren. Für Leute, die nicht hier wohnen, sei das nicht sehr einfach. «Ein Trampilot muss sich da stets entscheiden», sagte der Richter.
Wenn der Tramfahrer auf den Schritt des Opfers auf die Strasse reagiert habe, habe er nicht früher reagieren können. Auch sei er auf der Strecke nicht zu schnell unterwegs gewesen. Das Gericht geht davon aus, dass der Fussgänger auf der Insel zumindest kurz gestoppt hat. «Wir können Ihnen keinen Vorwurf machen, früher reagieren zu müssen», sagte der Richter.
Hätte er Unfall verhindern können?
Der Unfall ereignete sich am 30. Oktober 2023 um 8 Uhr morgens. Der Tramfahrer war mit einem 14er vom Stampfenbachplatz her Richtung Seebach losgefahren. Auf Höhe des Sumatrasteigs überquerte ein Gast eines nahen Hotels den Fussgängerstreifen. Das Tram erfasste den 85-jährigen US-Touristen. Er erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und verstarb vier Tage später im Spital.
Das Gericht musste die Frage klären, ob der Tramfahrer den Unfall hätte verhindern können. Die Staatsanwaltschaft sah diese Möglichkeit und verlangte eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung.
Der Chauffeur habe «nicht alles unternommen», um die Kollision zu verhindern. Gemäss Anklageschrift hätte der VBZ-Chauffeur ahnen müssen, dass sich der Fussgänger «nicht richtig verhalte».
Schliesslich habe der 85-Jährige auch nach Betätigen der Warnglocke nicht in Richtung des Trams gesehen. Trotzdem sei der Chauffeur mit gleichem Tempo weitergefahren, bis zur Notbremsung.
Hätte der Chauffeur das Tempo früher reduziert und früher abgebremst, hätte die Kollision gemäss Anklage «ohne Weiteres» verhindert werden können. Sie forderte für den Chauffeur eine bedingte Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 120 Franken. Am Prozess nahm die Staatsanwaltschaft nicht teil.
Unvermittelt auf Geleise getreten
Ganz anders sahen das der Beschuldigte und seine Verteidigerin. Das 85-jährige Opfer sei unvermittelt auf die Fahrbahn getreten, hielt der Tramfahrer fest.
Der Mann sei auf der Fussgängerinsel gestanden und erst auf die Geleise getreten, als das Tram fünf bis zehn Meter entfernt war, sagte der Beschuldigte am Mittwoch vor Gericht. «Ich habe sofort einen Notstopp eingeleitet. Ich habe noch vor Augen, wie er den Schritt auf die Fahrbahn machte». Die Bilder seien ihm lange im Kopf geblieben, sagte der Deutsche. Er habe auch psychologische Hilfe in Anspruch genommen.
Eine frühere Temporeduktion sei nicht nötig gewesen. «Ich habe überdurchschnittlich reagiert», sagte er. Tramfahrer könnten nicht prophylaktisch stoppen, weil jemand auf die Strasse gehen könnte. «Sonst käme ich auf der Bahnhofstrasse gar nicht mehr vorwärts». Er sei davon ausgegangen, dass der Mann auf das frühere Betätigen der Notrassel reagiert habe und stehenbleiben würde.
Paradoxe Reaktion
Laut der Verteidigerin sei «paradoxerweise» das Gegenteil der Fall gewesen. Es scheine als habe der Tourist das Läuten als Signal empfunden, loszugehen. Zwischen Notglocke und Notstopp sei zudem nur eine Sekunde vergangen.
Dass der Mann ohne stehenzubleiben den Fussgängerstreifen und die Insel überquerte, sei nicht erstellt. Ihr Mandant habe das Opfer auf der Insel stehen sehen. Dabei habe er in die andere Richtung gesehen, darum das Warnsignal. Ihr Klient hätte vier Hundertstelsekunden früher mit dem Notstopp reagieren müssen, wenn die Version der Anklage übernommen würde, sagte sie.
Laut der Anwältin war das Tram mit 31 Kilometern pro Stunde deutlich unter den erlaubten 48 km/h unterwegs. Am Unfallort warnten dreieckige Signale auf dem Boden vor den Trams. «Die Anklage verlangt hellseherische Fähigkeiten von meinem Mandanten», sagte sie. Es wäre demnach leichtsinnig, jedes Mal einen Notstopp einzuleiten, wenn eine ältere Person am Strassenrand stehe.
Zivilansprüche des Sohnes des verstorbenen Sohn wies das Gericht ab. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und kann ans Obergericht weitergezogen werden.