
Mehr als eine Friedensbewegung

Tausende Menschen in der Schweiz und Millionen weltweit protestierten gegen einen Krieg im Irak. Die Aktionen sollen weitergehen, so Ankündigungen am Montag.
Die Proteste seien weit mehr als simple Friedensforderungen, sagen Soziologen.
«Es geht hier nicht um einen nett romantischen Pazifismus. Die Leute sind sich bewusst, dass etwas Gravierendes im Gange ist», sagt der Lausanner Soziologieprofessor René Levy.
Diese Ansicht teilt auch Fabrizio Sabelli: «Wir wohnen einer Globalisierung der Opposition gegen diesen angekündigten Krieg bei», ergänzt der Genfer Anthropologe.
«Dieses Phänomen bestätigt», fährt Sabelli fort, «dass die Geschichte daran ist, sich immer mehr weltweit zu einen. Nicht nur gegenüber den Märkten, sondern auch hinsichtlich der Wahrnehmung und der Gefühle, welche die Menschen heutzutage haben.»
Der Genfer Soziologieprofessor Ueli Windisch konstatiert ein anderes Phänomen: «Die erfreuliche Seite dieser Demonstrationen ist, dass sie dem Bild einer abwesenden Öffentlichkeit, welche abgestumpft ist von den Horrorbildern des Fernsehens, widersprechen.»
Zu ergründen sind die Motive einer solchen Gegnerschaft der Militäroperation und die wiederholten Kundgebungen, welche sie provoziert.
Eine selektive Mobilisierung
«Die ganze Welt ist gegen den Krieg», sagt Ueli Windisch. «Und somit gehen die Bürger in Massen für eine sehr noble Sache auf die Strasse. Doch warum gab es eine solche Mobilisierung nicht nach den Attentaten vom 11. September?»
«Ein Teil der Menschen drückt ihre Feindseligkeit aus gegen einen Staat, der als einzige Weltmacht angesehen wird, und den Eindruck hinterlässt, seine Macht zu missbrauchen», antwortet der Ethnologe Pierre Centlivres.
Für Ueli Windisch beweisen diese Leute ihren Anti-Amerikanismus: «Die Vereinigten Staaten sind die einzigen, welche uns von den letzten Tyrannen der Welt befreien können. Aber dennoch hören gewisse Medien und Intellektuelle nicht auf, sich über Präsident George W. Bush lächerlich zu machen.»
«Man kann sich kaum mehr vorstellen», so Windisch weiter, «dass der Präsident der USA diesen Krieg im Namen von Grundwerten, welche Europa mit den USA teilt, führen will.»
Eine Propaganda, die nicht überzeugt
Nichts desto trotz: Die Demonstrationen und Resultate von Meinungsumfragen in vielen Ländern zeigen für René Levy, dass die Argumente für diese Militäroperation es nicht geschafft haben, viele Menschen zu überzeugen.
«Gerade weil sie von verschiedenen Regierungen übergangen werden, sind die Leute motiviert, zu demonstrieren», so Levy.
Der Lausanner Soziologe betont, dass die diplomatischen Auseinandersetzungen im UNO-Sicherheitsrat die erste grosse Krise zwischen den USA und der Europäischen Union darstellten – die erste Krise seit der Implosion des Kommunismus.
Zudem ist auch die EU in der Frage gespalten. Eine Situation, welche Fabrizio Sabelli nicht erstaunt. «Die Regierungen, welche zur Zeit diese militärische Option unterstützen, sind von ihrer Art her mehr oder weniger populistisch. So die USA, Italien, Spanien und – in geringerem Ausmass – Grossbritannien.»
Ihre auf Konsens bedachte Art zu regieren, widerspreche in diesem Fall den aktuellen Wünschen der Bevölkerung, fügte der Genfer Anthropologe Sabelli hinzu.
Nein zur Lüge
Sabelli nimmt an, dass die Demonstrationen und die dem Krieg feindlich gestimmten Umfrage-Ergebnisse auch eine politische Botschaft sei, welche den populistischen Regierungen ihre Legitimität abspreche.
Zudem «handelt es sich um einen Protest gegen die fehlende Transparenz, welche dieser Krise innewohnt», so Sabelli. Und damit protestierten die Leute zugleich gegen nicht transparente Regierungen. «Es sind Kundgebungen gegen die Lüge.»
Ueli Windisch erinnert daran, dass es um das Amerika von Ronald Reagan geht; ebenfalls ein Präsident, dem von Europa Geringschätzung entgegen gebracht wurde – und der beigetragen hat, das sowjetische Regime zu beenden. «Die Geschichte ist häufig paradox», schliesst der Soziologe.
swissinfo, Frédéric Burnand, Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Eva Herrmann)
Das Bündnis gegen den Krieg kündigte am Montag neue Aktionen an.
Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Schweiz wurden aufgefordert, sich dem weltweiten Protest anzuschliessen und am Mittwoch an Schulen und Universitäten gegen einen Krieg zu demonstrieren.
Die Aktion mit dem Namen Books not bombs sei weltweit koordiniert, sagten Vertreter des Bündnisses an einer Pressekonferenz in Bern.
Bei einem allfälligen Kriegsbeginn würden in der Schweiz am gleichen Tag wie in der restlichen Welt Kundgebungen stattfinden, fügten sie hinzu.

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