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Wie die Schweiz zu einem liberaleren Abtreibungsland wurde – völlig unbemerkt

Medizinische Instrumente
Blick auf ein gynäkologisches Instrumentenset. Keystone

Ab 2027 übernimmt in der Schweiz die Krankenkasse die Kosten für Abtreibungen. Die Regelung passierte das Parlament praktisch unbemerkt. Wo steht die Schweiz nun im internationalen Vergleich?

«Kostendämpfungspaket 2». Der Titel des Massnahmenbündels, über welches das Parlament im März 2025 abstimmte, liess nicht auf Mehrausgaben für die Schweizer Krankenkassen schliessen, im Gegenteil. Und einen Richtungsentscheid im umstrittenen Thema der Abtreibung hätte man dahinter erst recht nicht vermutet.

Aus der Gesundheitskommission, die den dicken Stapel neuer Regeln vorberaten hatte, kam auch kein Hinweis. Und so winkte das Parlament das Geschäft im Frühling durch, ohne sich der Tragweite bewusst zu sein – im Schweizer Politbetrieb eine Kuriosität.

Die Medien und Öffentlichkeit blieben genauso im Dunkeln. Bis eine Journalistin einen Tipp bekam. So erfuhr die Schweiz Ende August aus der Sonntagszeitung, dass die Kosten für legale Abtreibungen künftig vollständig von der Krankenkasse übernommen werden, vermutlich ab 2027.

Eine Änderung mit primär sozialpolitischer Bedeutung

Dazu muss man wissen: Bislang haben die Krankenkassen medizinische Leistungen im Zusammenhang einer Schwangerschaft erst ab der 13. Schwangerschaftswoche voll übernommen. Das heisst ohne Abzug im Rahmen von Franchise und Selbstbehalt.

Neu soll die Befreiung von diesen Abzügen bereits ab Beginn der Schwangerschaft gelten. Und das schliesst eben auch Abtreibungen mit ein.

Die Änderung hat vor allem sozialpolitisches Gewicht. Finanziell schlecht gestellte junge Frauen haben oft ein Versicherungsmodell, das einen hohen Eigenanteil bei den medizinischen Kosten zur Folge hat. Und mit 500 bis 3000 Franken ist eine Abtreibung in der Schweiz vergleichsweise teuer.

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Der Druck auf Geringverdienerinnen, ein Kind zu behalten, war entsprechend gross. Ihnen blieb nur, bei privaten Hilfsangeboten oder je nach Umständen der Sozialhilfe um Unterstützung zu bitten – sich also in einem sehr vulnerablen Moment zu exponieren.

Zufriedene Linke, konsternierte Konservative

Die politische Linke unterstrich den symbolischen Gehalt der Änderung. Mattea Meyer, Ko-Präsidentin der Sozialdemokraten, sprach von einem «feministischen Meilenstein». Eine nachgeschobene Qualifikation, zumal das Parlament den Paradigmenwechsel ja im Blindflug beschlossen hatte.

In konservativeren Kreisen war der Ärger gross. EDU-Nationalrat Andreas Gafner, ein Evangelikaler, sagte zur Sonntagszeitung: «Als ich von den Gratis-Abtreibungen erfuhr, war es bereits zu spät, um mit einem Antrag eine Diskussion im Rat zu erzwingen.»

Im Boten der Urschweiz schrieb ein Leser, er verstehe nicht, «warum jeder Krankenkassenzahler diese Gräuel mitfinanzieren muss».

Schwangerschaftsabbrüche sind in der Schweiz bis zur 12. Woche legal, Voraussetzung ist einzig ein Beratungsgespräch.

Diese «Fristenregelung» gilt seit 2002. Davor war ein Schwangerschaftsabbruch nur legal, wenn eine besondere Indikation vorlag, also etwa dann, wenn das Kind eine schwere Fehlbildung hatte oder die Gesundheit der Mutter in Gefahr war.

Allerdings zogen die Gerichte ab den Siebzigerjahren auch psychische Gründe als Indikation für eine Gefährdung heran. Das hat der späteren, liberalen Praxis den Weg geebnet.

Auch die liberale Basis zeigte sich in Leserkommentaren teils irritiert. Sie stört sich vor allem daran, dass auch Gutverdienenden, die leichtfertig gehandelt haben, die Kosten für die Abtreibung bezahlt werden. Hingegen intervenierte die FDP im Parlament nicht.

Im Gegenteil: FDP-Frauen-Präsidentin und Nationalrätin Bettina Balmer – sie ist auch Kinderärztin – sagte zur Sonntagszeitung: «Wenn man Ja zur Fristenlösung sagt, dann muss man auch einen straflosen Schwangerschaftsabbruch in die Mutterschaft integrieren.»

Liberale Praxis, tiefe Abtreibungsquote

Mit 12 Wochen fällt die Frist in der Schweiz im Vergleich zu den progressivsten Staaten der Welt aber immer noch defensiv aus. Das zeigt auch ein Blick auf die regelmässig aktualisierte Übersicht zur weltweiten Rechtslage des Center for Reproductive RightsExterner Link in New York.

So erlauben etwa Spanien und Frankreich die Abtreibung regulär bis zur 14., Dänemark und Schweden bis zur 18., und Neuseeland bis zur 20. Schwangerschaftswoche.

Kanada setzt bundesrechtlich überhaupt keine Frist. Es gibt dort allerdings praktische Einschränkungen. In der Regel führen Kliniken Abtreibungen im fortgeschrittenen Stadium nur bei spezifischen Indikationen durch.

Während Frankreich das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankert hat, schränken es andere Länder ein, auch in Europa. Lesen Sie dazu:

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Die Kosten für die Abtreibung werden in den meisten progressiven Ländern, die auch über ein ausgebautes öffentliches Gesundheitssystem verfügen, vollständig von den Kassen übernommen.

Etwa in Frankreich, Dänemark und Kanada. Hingegen müssen Betroffene in Deutschland und Österreich die Kosten selbst tragen. Für Geringverdienende gelten Ausnahmen.

Die Schweiz hat stabile Abtreibungszahlen

Im internationalen Vergleich steht die Schweiz an der Spitze der Länder mit den wenigsten Abtreibungen. In einer grossen internationalen StudieExterner Link zum Thema, mit Daten aus den Jahren 2015 bis 2019, rangierte sie mit 5 Abtreibungen pro 1000 Frauen und Jahr zusammen mit Singapur zuoberst (Kartengrafik oben).

Dieses Ergebnis wird auf die obligatorische Sexualerziehung in den Schulen zurückgeführt, aber auch auf die Kaufkraft in der Schweiz und die gute Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln.

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Aktuelle Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass die Abtreibungsquote in den letzten Jahren relativ stabil geblieben ist, mit einem besonders tiefen Wert in der Gruppe der 15 bis 19-Jährigen.

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