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«Erdrutsch in der Schweizer Medienlandschaft»

Erstes Opfer: Die Gratiszeitung Le Matin bleu verschwindet, 20 minutes bleibt. Keystone

Die Übernahme der Edipresse durch die Verlagsgruppe Tamedia verstärkt den Verdrängungskampf in der Presselandschaft, sagt Branchenkenner François Gross. Eng dürfte es vor allem für die kleineren Westschweizer Regionalzeitungen werden.

Für François Gross war am Dienstag die Nachricht der Übernahme – anders als für viele Kollegen – keine Überraschung.

«Seit mehreren Monaten gab es Gerüchte, dass Edipresse nach einer Zukunftslösung sucht», sagt der heute 78-Jährige, der von 1970 bis 1990 Chefredaktor der Freiburger La Liberté war.

«Die Frage war lediglich, ob der Partner aus Frankreich oder aus der Deutschschweiz stammen werde.»

«Trust de Presse Suisse»

Jetzt, wo die Katze aus dem Sack ist, ist aber auch Gross von der Tragweite des Deals beeindruckt. «Die Übernahme kommt einem Erdrutsch in der Medienlandschaft gleich, denn damit stösst zum ersten Mal ein grosser Deutschweizer Verleger in die Romandie vor.»

Die Schweizer Medienlandschaft werde sich neu formieren, mit der Tamedia als neuem «Trust der Schweizer Presse» an der Spitze.

Gern werden Pressevielfalt und Qualität als zwei Wesensmerkmale des schweizerischen Journalismus hervorgehoben. Genau da setzt Gross nach dem angekündigten Coup Fragezeichen.

«Jetzt kann man nicht mehr gross von einer Pressevielfalt sprechen», konstatiert er. Ebenso wenig gebe es eine Garantie dafür, dass die Übernahme mit einer Qualitätsverbesserung der verbleibenden Titel verbunden sei.

Verzettelung und Kannibalisierung

Offiziell sprechen die beiden Verlagshäuser von einer Fusion. Doch für Gross sieht die Realität anders aus. «Es handelt sich klar um eine Übernahme von Edipresse durch Tamedia, die 2013 abgeschlossen sein wird».

Die Folgen davon taxiert der langjährige Journalist gegenüber swissinfo als sehr weitreichend. Sie betreffen einerseits das Haus Edipresse und einzelne seiner Titel selber.

«Die Übernahme bedeutet das Ende eines kleinen Westschweizer Presseimperiums», lautet sein Fazit. Statt sich zu fokussieren, habe sich Edipresse in den letzten Jahren mit Engagements in den Bereichen Internet sowie Lokalfernsehen verzettelt, begründet Gross.

«Zudem sorgte die Gratiszeitung Le Matin bleu für eine interne Kannibalisierung, büsste doch gerade Le Matin sehr viel Terrain ein», sagt der Doyen des Westschweizer Journalismus.

Mit dem Erfolg der Gratiszeitung habe Edipresse bei den Lesern die Haltung gefördert, für eine Zeitung nicht mehr bezahlen zu müssen.

Tamedia-Pläne entscheidend

Entscheidend werde die Frage sein, was Tamedia mit Edipresse vorhabe. Fest steht für den Branchenkenner, dass die beiden Westschweizer Gratiszeitungen 20 minutes (Tamedia) und Le Matin bleu (Edipresse) zusammengelegt werden.

Eine weitere Option wäre eine Annäherung oder ein Zusammengehen von 24 heures mit der Tribune de Genève. «Damit würde auch die verstärkte Osmose zwischen den beiden Ballungszentren Genf und Lausanne publizistisch nachvollzogen», sagt Gross.

Fragezeichen macht er auch hinter Le Temps. Viel hänge davon ab, ob die Zeitung weiter in Richtung einer «NZZ der Romandie» entwickelt werde.

Kleine noch mehr bedroht

Vielleicht noch einschneidender als für die Edipresse-Titel dürften die Konsequenzen des Coups für die verbliebenen kleineren Westschweizer Zeitungen über den Léman-Bogen hinaus sein.

Bereits jetzt kämpfen die kleineren regionalen Zeitungen in der Westschweiz infolge Inserate- und Abonnentenschwund ums Überleben. Mit dem Merger verstärkt sich der Druck auf den Neuenburger Express, L’Impartial aus La Chaux de Fonds, Le Journal du Jura (Biel) und den Quotidien du Jura aus Delsberg noch einmal.

«Sie werden um eine technische Zusammenarbeit oder eine Fusion einzelner Redaktionsteile wohl kaum herumkommen», prognostiziert Gross. Auch für den Courrier de Genève sowie die Freiburger Liberté, die ebenfalls schlecht dastünden, sieht Gross die Luft dünner werden.

Diese müssten sich jetzt erst recht neue Lösungen einfallen lassen. Angesichts der herrschenden Wirtschaftskrise ein schier unmögliches Unterfangen, bemerkt Gross nüchtern.

swissinfo, Renat Künzi

Jahreszahlen Tamedia 2007:
Gewinn: 143 Mio. Fr. (Rekord, +45%).
Umsatz: 772 Mio. Fr. (+17%).
Mitarbeitende: 1600

Edipresse 2007:
Gewinn: 32 Mio. Fr. (+7,3%).
Umsatz: 815 Mio. Fr. (-8,1%).
Mitarbeitende: 3387

Tamedia:

Tages-Anzeiger
20 Minuten
SonntagsZeitung
Berner Zeitung
Der Bund


Edipresse:

24 heures
Le Matin/Le Matin bleu
Le Matin Dimanche
Le Temps
Tribune de Genève

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