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Die Reporterin, die in die Ukraine zog

Maurine Mercier vor einer ihrer TV-Liveschaltungen aus der Ukraine
Maurine Mercier vor einer ihrer TV-Liveschaltungen aus der Ukraine. DR

Maurine Mercier, Korrespondentin des Westschweizer Radios und Fernsehens RTS in Kiew, wurde diesen Herbst zweimal für ihre menschliche und ungeschminkte Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine ausgezeichnet. Porträt einer Journalistin, die von dem Bedürfnis getrieben ist, sich sehr direkt mit der Realität zu konfrontieren.

Maurine Mercier hasst die Starallüren von Journalistinnen und Journalisten – die «Gloriole», wie sie es nennt. Daher nimmt sie die Auszeichnungen, die sie in diesem Herbst erhalten hat, mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Verlegenheit entgegen.

Anfang Oktober erhielt sie den renommierten französischen Kriegsberichterstattungspreis Prix Bayeux Calvados-NormandieExterner Link und am 11. November den Prix DumurExterner Link, der jedes Jahr an eine Journalistin, einen Journalisten oder ein Medium aus der Schweiz verliehen wird. Sie wiederholt: «Unser Beruf ist es, jene hervorzuheben, die Zeugnis ablegen, und nicht unsere eigene kleine Person.»

Wenn sich uns die 41-Jährige aus Lausanne an einem arbeitsreichen Tag dennoch fast eineinhalb Stunden für ein Interview zur Verfügung stellt, dann, um den Nachwuchs zu inspirieren, speziell Frauen.

Obwohl immer mehr Frauen über Konfliktgebiete berichten, hat sich das männliche Bild des «Kriegsreporters» in kugelsicherer Weste hartnäckig gehalten. «Es gibt immer noch die Vorstellung, dass ein Mann in dieser Funktion legitimer ist, aber das ist falsch», sagt Mercier. «In einigen sehr konservativen Ländern ist sogar das Gegenteil der Fall, weil Männer nicht mit Frauen sprechen dürfen.»

Auch aus diesem Grund lehnt sie es ab, sich «Kriegsreporterin» zu nennen. Der Ausdruck transportiert ihrer Meinung nach diese Klischees und missbraucht Länder, «die eine tragische Situation erleiden, sich aber nicht darauf reduzieren lassen».

Mercier ist also Reporterin und berichtet für das Schweizer Radio und Fernsehen RTS, den französischsprachigen Sender der SRG-Gruppe, zu der auch swissinfo.ch gehört, Radio France und das französischsprachige belgische Radio und Fernsehen (RTBF) über den Krieg in der Ukraine.

Die Journalistin hat gerade einen vierjährigen Korrespondenzvertrag mit RTS unterzeichnet. Mitte August liess sie sich in der ukrainischen Hauptstadt nieder – seit kurzem wieder Ziel von Bombenangriffen –, von wo aus sie unsere telefonischen Fragen beantwortete.

Mit Haut und Haar dabei

Als Russland den Krieg gegen die Ukraine Ende Februar startet, ist Mercier seit sechs Jahren als Korrespondentin in Nordafrika tätig. Nachdem sie 24 Stunden lang die Entwicklung der Ereignisse in den sozialen Netzwerken verfolgt hat, fällt der Entscheid, Tunesien zu verlassen.

«Ich bin überzeugt, dass man aus der Ferne nicht über einen Krieg berichten kann», sagt die Journalistin. Sie meldet sich freiwillig für den Einsatz und erhält grünes Licht von RTS. Sie geniesst den Ruf einer hartnäckigen, in sensiblen Gebieten erfahrenen Arbeiterin, namentlich aufgrund ihrer Berichterstattung aus dem Krieg 2014 im Donbass (Ostukraine).

Die Reporterin ist zunächst drei Monate lang mit dem Status einer Sonderberichterstatterin tätig. Während dieser Zeit reift in ihr die Idee, sich dauerhaft im angegriffenen Land niederzulassen. «Ich sagte mir: Wenn man schon über die Ukraine berichtet, dann sollte man auch mit beiden Beinen dort stehen.»

Das Eintauchen in die Ukraine ist eine Frage der Effizienz, aber auch der Legitimität der Journalistin, die ganz genau wissen will, worüber sie berichtet. Ihr Wunsch deckt sich mit den Bedürfnissen von RTS, wo eine neue Dauerstelle geschaffen wird.

Es sei für das öffentlich-rechtliche Medium die erste solche Stelle in einem Land, in dem Krieg herrscht, sagt Virginie Matter, stellvertretende Chefredaktorin für Radionachrichten und Leiterin des RTS-Auslandressorts.

«Es ist ein starker redaktioneller Akt, nicht nur auf Freelancerinnen und Freelancer auszuweichen, die nicht die gesamte Betreuung erhalten, die eine grosse Struktur bieten kann», sagt sie.

Zu Beginn des Konflikts strömten viele freie Journalistinnen und Journalisten in die Ukraine, um sich zu profilieren. Wobei sie sich manchmal sogar in Gefahr brachten. Viele verfügten über keinerlei Erfahrung in Kriegsgebieten.

Laut Reporter ohne GrenzenExterner Link sind seit Jahresbeginn acht Medienschaffende in dem Land ums Leben gekommen. Darunter war auch Frédéric Leclerc-Imhoff, mit dem Mercier befreundet war. Sein Tod machte die Reporterin sehr betroffen.

Die Sicherheit ist daher ein ständiges Anliegen der Reporterin, die einzig mit einer Übersetzerin arbeitet. Das RTS wendet ein strenges Sicherheitsprotokoll an, aber «Maurine ist keine Hasardeurin», sagt Matter, ihre Ansprechpartnerin seit mehr als fünf Jahren.

«Eingesperrt» in der Schweiz

Maurine Mercier wird als Tochter einer Kanadierin aus Québec und eines Waadtländers geboren. Ihre Kindheit verbringt sie zwischen dem Alltag in der Schweiz und Ferienaufenthalten in Kanada.

Sie wird dabei mit dem Reisevirus infiziert, das sie nie wieder loslassen wird. Sie gesteht: «Ich habe mich in der Schweiz immer ein bisschen eingesperrt gefühlt. Es ist ein tolles Land, aber es ist eine Anomalie.»

Parallel zu ihrem Studium der Internationalen Beziehungen in Genf arbeitet sie in Gelegenheitsjobs, um ihre Reisen zu finanzieren: Kuba, Venezuela, China – und sogar ein Versuch, illegal nach Nordkorea zu gelangen…

«Ich hatte schon immer das Bedürfnis, die Welt mit eigenen Augen zu sehen.» Sie spricht fliessend Spanisch und Englisch, beherrscht Deutsch, hat «gelernt, sich in Arabisch zurechtzufinden» und lernt derzeit Russisch und Ukrainisch.

Maurine Mercier in den Studios von La Tele im Jahr 2010
Maurine Mercier begann ihre audiovisuelle Karriere bei La Tele, dem Lokalsender für die Region Waadt-Freiburg. Keystone / Dominic Favre

Der Journalismus ist ein Weg, um ihre Neugier zu stillen. Die humanitäre Arbeit hätte ein anderer Weg sein können. Jedenfalls beginnt sie ihre Karriere beim Lokalfernsehen im Kanton Waadt. Dort sammelt sie die Erfahrungen, die es ihr heute ermöglichen, vor Ort völlig autonom zu arbeiten.

2012 wechselt sie zu Radio RTS in Lausanne, wo sie verschiedene Positionen im Bereich Aktualität einnimmt. Ihre beste Erinnerung: zwei Jahre «Matinale» beim Musiksender Couleur 3 mit den «zwei Vincents», den Komikern Vincent Kucholl und Vincent Veillon, die als Duo Kultstatus haben.

2015 erfüllt sich Mercier ihren Traum und wird Teil der internationalen Rubrik. Sie ist eine beliebte Kollegin. «Aber ich habe erst dort gemerkt, dass ich wirklich rausgehen und vor Ort sein wollte», sagt sie. Also kündigt sie ihren Job und lässt sich in Tunesien nieder.

>> Lesen Sie hier unser Auslandschweizerinnen-Porträt von Maurine Mercier als Korrespondentin in Nordafrika im Jahr 2018:

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Als Korrespondentin berichtet sie unter anderem über die Nachrichten aus Algerien und dem damals bürgerkriegsähnlichen Libyen – sie bezeichnet dies als ihre komplizierteste Erfahrung, was den Zugang zu Informationen angeht.

Sie lässt in ihren Berichten libysche Milizionäre zu Wort kommen oder berichtet in einer Reportage über den Albtraum vergewaltigter Migrantinnen. Diese wird 2018 mit einem Swiss Press Award ausgezeichnetExterner Link.

Die kleine Geschichte in der grossen

Seit sie in der Ukraine ist, hat die Reporterin unter anderem die Aussagen einer Mutter gesammelt, die in Butscha vergewaltigt wurde. Für diese Berichterstattung erhielt sie den Prix Bayeux, eine Premiere für eine Schweizer Journalistin. Auch berichtete sie über einen ukrainischen Jugendlichen, der aus einem russischen Gefängnis gerettet wurde.

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In der Branche taucht das Wort Menschlichkeit häufig auf, um ihre Reportagen zu beschreiben, die Raum für die oft vergessenen Worte gewöhnlicher Menschen lassen. Matter sieht in der «sehr grossen Sensibilität» von Mercier den Schlüssel zu «ihrem einzigartigen Blick».

«Trotz ihrer Erfahrung hat sie nicht diese Seite von ‹ich habe alles gesehen'», sagt Matter. «Sie behält ihre Fähigkeit zur Empörung, aber auch ihren kritischen Geist.» Mercier selbst relativiert dies und meint, dass sie lediglich «die Realität zeigt». Aber sie erkennt sich in dem Gedanken wieder, dass «man die grosse Geschichte oft durch die kleine Geschichte versteht».

Um das Vertrauen von Traumaopfern zu gewinnen, sagt Mercier, dass sie nur Respekt zeigt und sich Zeit für ihre Schilderungen nimmt. Sie legt grossen Wert darauf, die Beziehungen zu diesen Menschen langfristig zu pflegen.

Psychologisch gesehen ist es manchmal schwierig, solche Geschichten zu verarbeiten. Ihre Lösung ist, mit den Menschen, mit denen sie arbeitet, darüber zu sprechen, zu weinen, aber auch zu lachen. «Die gemeinsame Erfahrung ermöglicht es, keine Filter zu haben, und das tut enorm gut.»

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Dass sie im Land lebt, erleichtert ihr paradoxerweise die Dinge. «Für zehn Tage in eine schreckliche Situation katapultiert zu werden und dann in die ‹wattierte› Schweiz zurückzukehren, war für mich immer sehr schwierig.»

Die Reporterin teilt die Frustration eines Teils der Öffentlichkeit, die bemängelt, dass in den Medien hauptsächlich aus der Ukraine über diesen Krieg berichtet wird. Bisher nahmen die russischen Behörden jedoch keinen ihrer Anträge auf Genehmigung an, auch aus Russland zu berichten.

«Wir sind dazu verurteilt, nur von einer Seite über den Krieg zu berichten», bedauert sie. «Das ist ein grundlegendes Problem. Propaganda gibt es auch auf ukrainischer Seite».

In einem Krieg, der wie immer auch über Informationen und Desinformation geführt wird, gesteht die Journalistin, dass sie Angst davor hat, manipuliert zu werden, dass sie diese Angst aber als Leitplanke nutzt. «Man muss allem misstrauen, gerade damit es nicht passiert.»

Trotz der Härte ihres aufreibenden Berufs ist Maurine Mercier eine fröhliche Frau. Sie versichert, dass sie «nicht besser umgeben sein könnte», von einer Familie und von Verwandten, die sie immer unterstützt haben.

Sie bleibt der Schweiz sehr verbunden, wo sie sich diesen Sommer einige Wochen in den Walliser Bergen erholte. Und vor allem fühlt sie sich privilegiert, diesen Beruf ausüben zu dürfen: «Jeden Tag diese Worte zu sammeln, ist ein Geschenk.»

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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