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Sämi, der singende Postautochauffeur

Ein Mann am Steuer eines Postautos
Wenn Samuel «Sämi» Zumbrunn am Steuer des Postautos sitzt, verspricht die Fahrt melodiös zu werden. SWI swissinfo.ch / Céline Stegmüller

Postautochauffeur und Jodler: Sämi Zumbrunn verwandelt jede Fahrt in ein unvergessliches Erlebnis. Wer könnte besser als Botschafter für eine Schweizer Tradition taugen, die bald in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen werden könnte? Eine Reportage aus dem Berner Oberland.

Sobald das Postauto um die Kurve kommt, beginnen die Kinder zu winken. Am Steuer haben sie Sämi erkannt, ihren Lieblingschauffeur. Er wird sie nach der Mittagspause wieder zur Schule fahren.

Ein Junge im gestreiften Hemd und mit einem Gurt mit Kühen drauf fragt ihn mit heller Stimme, kaum ist er eingestiegen: «Sämi, singst du uns einen Jodel?» Eine Bitte, die er gleich dreimal wiederholt, da der Chauffeur erst zögert, sie zu erfüllen.

Nachdem er den letzten Touristen hat einsteigen lassen, stimmt Sämi einen Jodel an, und sofort verstummt das Gemurmel im Bus. Während die letzten Töne noch zwischen den Scheiben nachhallen, bricht warmer Applaus aus, begleitet von zustimmenden Pfiffen.

Einmal mehr hat Sämi die Herzen seiner Fahrgäste erobert. Heute fährt er die Strecke zwischen Brienz und dem Brünigpass bei Hasliberg.

«So bin ich eben. Ich teile gerne meine Leidenschaft für das Singen und das Jodeln», erzählt Sämi Zumbrunn, während er das Freilichtmuseum Ballenberg erreicht. Dort trinkt er während einer kurzen Pause direkt aus dem Brunnenrohr.

«Ich bin in einer Bauernfamilie in Unterbach bei Meiringen aufgewachsen. Schon als Junge sang ich beim Melken der Kühe oder beim Hüten der Rinder auf der Alp Chaltenbrunnen im Rychenbachtal», erinnert sich der heute 62-Jährige.

Bei ihm zu Hause wurde oft und bei jeder Gelegenheit gesungen: beim Geschirrspülen, nach dem Abendessen oder wenn man in den Bergen war. Diese Verbindung zu den Tieren, der Natur und den Alplandschaften hat seine Kindheit und Jugend tief geprägt.

«Mit zwölf Jahren bekam ich eine Musikkassette mit einer Zusammenstellung von Liedern der besten Jodler jener Zeit. Ich hörte sie tausende Mal, sodass in mir der Wunsch wuchs, ein ebenso guter Jodler zu werden.»

«Die schönste Postautofahrt meines Lebens»

Zumbrunn erlernt die Berufe des Zimmermanns und des Bauern und tritt im Alter von 19 Jahren dem Jodlerclub Ringgenberg bei. Der Dirigent ermutigt ihn, seine Gesangskünste zu pflegen, und schlägt ihm vor, privaten Gesangsunterricht zu nehmen.

«Dank täglicher Übung habe ich einen Stimmumfang von vier Oktaven erreicht», sagt er. Sein erster Auftritt bei einem Jodlerfest liegt vierzig Jahre zurück.

«Ich erhielt die beste Note: Klasse 1», erzählt er mit kaum verhehltem Stolz. Es wird die erste von vielen Auszeichnungen sein.

Auch seine Laufbahn als Chauffeur beginnt in jenen Jahren: Zunächst fährt er einen Milchtankwagen, dann einen Reisecar. Es ist eine Tätigkeit, die ihn mit den Menschen und dem Tourismussektor in Kontakt bringt – eine tragende Säule der Wirtschaft im Berner Oberland.

Mit der Zeit wird er Botschafter von Grindelwald, der Jungfraubahnen und von Schweiz Tourismus. Er bereist die halbe Welt und hat immer seinen Jodel dabei.

«Die Musik spricht eine universelle Sprache, die überall verstanden wird, weil sie vom Herzen kommt», sagt Zumbrunn. «Sie kann Brücken zwischen verschiedenen Kulturen bauen und Freundschaften schmieden, weil sie Harmonie überträgt.»

Und auch auf der Strecke zwischen Brienz und dem Brünigpass versprüht Sämi Lebensfreude. Während er die Engpässe am Hasliberg bewältigt, schaltet der «Singing Driver», wie er sich gerne nennt, das Mikrofon ein, begrüsst die internationale Gästeschar mit einem «Grüessech» und kündigt an, ihnen ein Geschenk machen zu wollen.

«Wenn es euch gefällt, nehmt es mit», erklärt er. «Ansonsten lasst es im Postauto.» Und so wiederholt sich die Szene auf jeder Fahrt.

Zunächst sind die Fahrgäste verwirrt, dann zeichnet sich ein Lächeln der Überraschung und Freude auf ihren Gesichtern ab. Beim Aussteigen bedanken sich einige für das unerwartete Geschenk und andere gestehen mit noch von der Rührung gebrochener Stimme, gerade «die schönste Postautofahrt meines Lebens» erlebt zu haben.

«Ich habe das Glück, die Arbeit mit meiner grossen Leidenschaft verbinden zu können, und das schätzen die Leute», sagt Sämi.

Einmal im Leben in der Elbphilharmonie in Hamburg singen

Es war ein amerikanischer Tourist aus Chicago, den er in Grindelwald kennengelernt hatte, der ihn dazu anspornte, einen weiteren Schritt in seiner Jodler-Laufbahn zu machen.

«Jeden Monat schrieb er mir einen Brief und fragte, ob ich endlich meine erste CD aufgenommen hätte», erzählt Sämi.

«Ich habe sie ‚Singing Driver‘ genannt, da das inzwischen der Spitzname war, den mir die Fahrgäste gegeben hatten. Die CD hatte grossen Erfolg, vor allem bei den japanischen Touristinnen und Touristen», erzählt Sämi.

Auf diese erste CD folgten zwei weitere. Die letzte ist «My Jodlerwäg», veröffentlicht zur Feier seiner vierzigjährigen Laufbahn. Und auf der Strasse – der asphaltierten – begeistert Sämi weiterhin.

Doch auch der «Singing Driver» kann kaum gegen die unwiderstehliche Anziehungskraft des Smartphones ankommen: Selbst seine Melodien schaffen es nicht, die Augen der Schülerinnen und Schüler einer Gymnasiumklasse aus der Stadt Bern von den Bildschirmen ihrer Handys abzuwenden.

Aber als er ihnen, während sie am Bahnhof auf den Zug warten, ein weiteres Lied schenkt, widmen sie ihm endlich etwas Aufmerksamkeit: sie filmen ihn und teilen das Video wahrscheinlich sofort in den sozialen Netzwerken.

Sämi Zumbrunn lebt für seine Träume. Er hat bereits viele Gipfel in seiner Heimat erklommen, darunter das Wetterhorn und den Mönch. «Nächsten Sommer möchte ich den Eiger über den Mittellegigrat besteigen», erzählt er.

Auf die Frage, welche musikalischen Projekte er noch in der Schublade habe, antwortet er: «In der Elbphilharmonie in Hamburg auftreten.»

Ungläubig bitten wir ihn, den Namen des Gebäudes zu wiederholen, das mittlerweile zu einem Tempel der Musik geworden ist. «Ich möchte meine Berge und die Natur in den Konzertsaal mit Blick auf die Elbe bringen», sagt er überzeugt.

Nach einer Kaffeepause ist es Zeit, wieder ans Steuer zu sitzen. Es vergehen nur wenige Minuten, dann schenkt Sämi erneut Jodel-Klänge.

«Ich möchte euch etwas schenken», erklärt er den neuen Fahrgästen. «Wenn es euch gefällt, nehmt es mit, ansonsten lasst es im Bus zurück.»

Wir sind sicher, dass alle es mit nach Hause genommen und diese unvergessliche Erfahrung mit Freunden und Bekannten geteilt haben.

Das Jodeln ist im Rennen um die Aufnahme in das immaterielle Kulturerbe der Unesco. Die Kandidatur wurde 2024 eingereicht, ein Entscheid wird für Ende 2025 erwartet.

In der Schweiz praktizieren über 12’000 Sängerinnen und Sänger das Jodeln. Es wird in Familien, Vereinen und Schulen weitergegeben und bleibt so lebendig und populär.

Trotz seiner Beliebtheit sind Massnahmen erforderlich, um seine Zukunft zu sichern. Die Kandidatur hat die Erarbeitung von Schutzmassnahmen ermöglicht, darunter die Verbesserung der nationalen Koordination, die Erweiterung der Bildungsangebote, die Förderung junger Talente und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit.

In der Vergangenheit hat die Schweiz bereits verschiedene Unesco-Anerkennungen für ihre lebendigen Traditionen erhalten, darunter das Winzerfest, die Basler Fasnacht, die Prozessionen von Mendrisio, die Uhrmacherei und die Alpwirtschaft.

Editiert von Daniele Mariani, Übertragung aus dem Italienischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Zeno Zoccatelli

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