Katar als Kanadas Hauptprobe für die Heim-WM
(Keystone-SDA) 36 Jahre nach der ersten Teilnahme bestreitet Kanada seine erst zweite WM-Endrunde. Nach der langen Abwesenheit auf der Weltbühne reist die Nationalmannschaft mit viel Selbstvertrauen nach Katar.
«Das ist der Moment, auf den das Land gewartet hat. Die Könige des Nordens haben es geschafft!» Der TV-Kommentator hielt sich mit Superlativen nicht zurück, als sich Kanada am 27. März, mitten im Schneegestöber in Toronto, mit einem 4:0-Sieg gegen Jamaika das WM-Ticket sicherte. Noch mehrere Minuten harrten die Spieler – viele mit Tränen in den Augen – in der Kälte aus, umarmten sich und liessen sich von den frenetischen Fans feiern. «Sie alle sind bereits Legenden», schwärmte der Kommentator und prophezeite: «Das war erst der Anfang.»
Zum erst zweiten Mal nach 1986 ist Kanada an einer WM-Endrunde dabei. Zuletzt knapp gescheitert war das Team in der Qualifikation für die WM 1994 in den USA, als es beim interkontinentalen Playoff im Penaltyschiessen gegen Australien verlor. Seither kamen die Kanadier nicht einmal in die Nähe einer Teilnahme. Umso grösser war das Ausrufezeichen, als sie in dieser Qualifikation WM-Stammgäste wie die USA und Mexiko hinter sich liessen und die Gruppe auf dem ersten Platz abschlossen.
Neue Profiliga
Vier Jahre vor der Heim-WM, die Kanada zusammen mit den USA und Mexiko austrägt, ist die Euphorie im Land gross. Die Qualifikation für Katar kam dank einer talentierten Generation sowie einer gezielten Förderung zustande.
So gab es in Kanada lange keine professionelle Liga. Kanadische Teams waren in amerikanischen Ligen engagiert. Pläne, eine eigene Meisterschaft auf die Beine zu stellen, wurden Anfang der 2010er-Jahre immer wieder besprochen, vorerst jedoch nicht realisiert. Nach langem Hin und Her wurde 2017 die Canadian Premier League ins Leben gerufen, die dem kanadischen Fussballverband untersteht.
2019 wurde der Spielbetrieb mit vorerst sieben Teams aufgenommen. Die Klubs sind verpflichtet, mindestens sechs kanadische Spieler in der Startelf aufzustellen, und dürfen höchsten sieben ausländische Spieler verpflichten. Ausserdem müssen drei heimische Spieler unter 21 Jahre alt sein und auf eine gemeinsame Einsatzzeit von mindestens 2000 Minuten pro Saison kommen. Es sind Auflagen, die das Ziel verfolgen, den kanadischen Fussball weiterzuentwickeln.
Junge Hoffnungsträger
Mit erst drei gespielten Saisons wäre es jedoch verfrüht, hinsichtlich des Erfolgs der Nationalmannschaft von einem Liga-Effekt zu sprechen. Vielmehr profitiert Kanada von einer starken Spielergeneration, von der mehrere Leistungsträger bei europäischen Topteams engagiert sind.
Aushängeschilder sind die Youngsters Alphonso Davies und Jonathan David. Die beiden 22-jährigen Offensivspieler spielen bei Bayern München (Davies) beziehungsweise Lille (David) und gelten als die Hoffnungsträger der Nation. Entsprechend gross war der Schock, als sich Davies am 5. November im Bundesliga-Spiel gegen Hertha Berlin verletzte. Nach letzten Abklärungen sollte er jedoch rechtzeitig wieder fit werden und – nach der Reha in München – dem Team nach Katar nachreisen.
Ebenfalls ins Kader geschafft hat es der beim FC Basel engagierte Liam Millar. Ob er in der stark besetzten Offensive zu Einsätzen kommt, bleibt allerdings offen. In der Qualifikation stand er fünfmal in der Startelf und wurde zweimal eingewechselt.
Unbekannter Trainer
Angeführt wird das Team vom relativ unbekannten Trainer John Herdman. Der 47-jährige Engländer war selber nie Profi und begann seine Trainerkarriere im Nachwuchs von Sunderland. 2003 zog er nach Neuseeland, wo er verschiedene Rollen im Nationalteam der Frauen übernahm, ehe er 2006 zum Haupttrainer aufstieg. Nach zwei WM-Teilnahmen wechselte er 2011 zum Frauen-Nationalteam Kanadas, mit dem er an den Olympischen Spielen 2012 und 2016 Bronze gewann.
Seit 2018 betreut der zweifache Familienvater die Nationalmannschaft der Männer. Unter Herdman erreichte das Team im Februar dieses Jahres mit Platz 33 die bisher höchste Platzierung in der Weltrangliste.
Zur Gruppenauslosung sagte Herdman: «Als wir Belgien und Kroatien zugelost wurden, haben wir uns die Hände gerieben und gesagt: ‹Das wird eine tolle Erfahrung›.» Kanada, das bei der ersten WM-Teilnahme in den USA ohne Punkte und ohne Tore geblieben ist, kann in Katar ohne Druck aufspielen und die etablierten Teams ärgern.