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Die Art Safiental Biennale bringt Stimmen aus der Zukunft

«Moving Landscape» des Künstlerpaars Quarto: Ein Aluminium-Kubus wandert langsam über eine Alpweide
Die "Moving Landscape" des Künstlerpaars Quarto. Ein Aluminium-Kubus wandert langsam über eine Alpweide. Dominik Landwehr

In einem naturnahen Bündnertal hat sich eine Kunstbiennale etabliert – im Safiental ist die fünfte Art Safiental Biennale zu erleben. Dieses Jahr stellt sie im Alpental die grosse Zukunftsfrage: Was wäre, wenn?

Die Art Safiental 2024 ist keine Schönwetter-Ausstellung. Nicht nur wegen den vielen Unwettern in diesem Sommer in der Schweiz, sondern auch wegen dem Programm dieser Freiluft-Ausstellung, die dieses Mal unter dem Motto «Was wäre, wenn? Stimmen aus der Zukunft» steht.

Die Kunstbiennale, die noch bis 20. Oktober dauert, erreicht jeweils 5000 bis 10’000 Besuchende. Vergangene Ausgaben lösten dabei auch weltweites Medienecho aus.

Was halten die Talbewohner:innen von der Kunst?

Doch wie stehen die Bewohnerinnen und Bewohner des Tals zu diesen Kunstaktivitäten? An der Vernissage Anfang Juli waren nur wenig Einheimische.

«Nachdem es wochenlang geregnet hatte, mussten die ersten warmen Tage für die Heuernte genutzt werden», erklärt Elisabeth Bardill die Abwesenheit. Bardill ist 83-jährig und lebt mit ihrem Mann seit 1963 im Dorf Tenna.

«Viele Leute im Tal haben eine gewisse Scheu, sich zu zeigen. Das hat auch damit zu tun, dass sie nicht oder wenig Englisch sprechen. Diese Art von Kunst ist für sie neu, sie gehen lieber ans Trachtenfest nach Zürich oder an den Ländler-Sonntag im Gasthof in Safien», sagt sie.

Im Hintergrund bestünden aber viele Kontakte und Austausch: So haben Frauen aus dem Tal zum Beispiel alte Textilien beigesteuert, woraus die schweizerisch-mexikanischen Künstlerin Paloma Ayala sogenannte «Spiis-Säckli», also Speisesäckchen, geschneidert hat.

Paloma Ayala hat in Tenna mit farbigen Backsteinen einen Gemeinschafts-Backofen errichtet.
Paloma Ayala hat in Tenna mit farbigen Backsteinen einen Gemeinschafts-Backofen errichtet. Dominik Landwehr

Im Safiental treffen die Krisen der Gegenwart auf die Krisen der Vergangenheit. Denn das Safiental wurde von einer erdgeschichtlichen Katastrophe vor 10’000 Jahren geprägt, als der Bergsturz von Flims das Rheintal verschüttet und damit den Zugang ins Tal verunmöglicht hat.

Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts war das Tal nur über die steilen Alpenpässe im oberen Teil zugänglich. Über diese Pässe kamen im Mittelalter die Walser. Die deutschsprachige Volksgruppe hat das Tal mit dem Walserdeutsch und den für die Walser typischen Streusiedlungen geprägt.

Ein Schauplatz der Land- und Umweltkunst

Die Art Safiental ist der Land and Environmental Art verpflichtet. Diese Land- und Umweltkunst wirkt im Aussenraum, wo sie kleine und grössere Eingriffe macht und dabei vergängliche Eindrücke schafft.

Der Bezug zu dieser Tradition ist Johannes M. Hedinger, dem Gründer und Künstlerischen Leiter der Art Safiental, immer noch wichtig. Darum hat er immer auch wieder ältere künstlerische Positionen integriert, wie das Projekt Furk’Art, das zwischen 1983 und 1999 auf dem Furkapass stattfand und als Vorläufer für die meisten heutigen Kunstprojekte in den Alpen gilt.

13 Stimmen von lokalen und zeitgenössischen Kunstschaffenden haben die vier Kuratorinnen und Kuratoren zusammengetragen. Neben Hedinger selbst sind das die Kuratorinnen: Anne-Laure Franchette, Josiane Imhasly, Joanna Lesnierowska.

Es ist keine gefällige und leicht konsumierbare Kunst und wer die Ausstellung anschauen will, braucht Zeit. Die einzige Strasse ist eng und steil, und für die knapp 30 Kilometer braucht das Postauto über eine Stunde. Die Werke sind in und um die Bergdörfer Versam, Tenna, in Safien Platz und Thalkirch verteilt.

Eine kleine Intervention ist etwa das Projekt von Andrea Todisco aus Rhäzüns, der ganz hinten im Tal seine skulpturale Arbeit «Bauprofile» aufstellte, die unmöglich zu bauende Kubaturen ankündigen und damit ein bekanntes System unterlaufen: was wäre, wenn Zukunftsprojektionen elastisch und formbar würden?

Werke bis oben auf dem Gipfel

Ebenfalls spielerisch präsentiert sich das Projekt «Moving Landscape» des brasilianisch-schwedischen Künstlerpaars Quarto: ein Würfel aus Aluminiumstangen in einer Alplandschaft. Er steht für den Gegensatz von Natur und Kultur. In einer Performance, die auf Video festgehalten wurde und auf dem Weg zu sehen ist, bewegen die Künstlerin und der Künstler den durchlässigen Raum des Würfels in zeremonieller Langsamkeit über die Alpweide.

Auf einem Gipfel werden jene, die hochgewandert sind, mit dem Werk «M.Ü.M.» belohnt – die Abkürzung steht für «Meter über Meer».  Mit Hilfe des Bundesamts für Landestopografie und dem Astronomischen Institut der Universität Bern haben Christina Hemauer und Roman Keller eine Messtation gebaut, die mit grosser Präzision an fünf Stellen im Tal die absolute und aktuelle Höhe des Standorts misst.

Roman Keller und Christina Hemauer bauen ihre Messstation «M.Ü.M.» auf – sie macht Verschiebungen im Millimeterbereich sichtbar.
Roman Keller und Christina Hemauer bauen ihre Messstation «M.Ü.M.» auf – sie macht Verschiebungen im Millimeterbereich sichtbar. Dominik Landwehr

Und es zeigt sich: Wir leben alle mit veralteten Höhenangaben. «Das Meer steigt wegen der Klimaerwärmung, die Alpen steigen wegen der nicht abgeschlossenen Alpenfaltung und der Hang etwa in Tenna rutscht wegen des losen Untergrunds», erklären die beiden. Ziel ist es auch nach Ende der Art Safiental Biennale jährlich Vergleichsmessungen zu machen. ”Damit machen wir Veränderungen wahrnehmbar, die aufgrund ihrer kleinen Dimensionen für den Menschen noch nicht sofort wahrzunehmen sind.”

Wasserwaagen im Kraftwerkstollen

Wahrnehmen kann man im nur scheinbar naturbelassenen Safiental auch mehrere Infrastrukturbauten zur Energiegewinnung: die Kraftwerke Zevreila, die Mitte des 20. Jahrhunderts gebaut wurden. Ein grosser Teil der Bauten besteht aus unterirdischen Röhren und Tunneln und ist Besucherinnen und Besuchern zunächst verborgen.

Das macht sich die Art Safiental zu Nutze. Zuhinterst im Tal, in einem Kraftwerkstollen wird die Videoinstallation «Tangere» der niederländischen Künstlerin Vibeke Mascini gezeigt: Wir sehen Hände mit kleinen Wasserwaagen an den Fingern – ein eigensinniger Kommentar der Künstlerin zur Beziehung der Menschen mit dem Wasser.

Vor dem Kraftwerk befindet sich die Hörstation der französisch-schweizerischen Künstlerin Magali Dougoud. Die Künstlerin erzählt in einem Audiostück von Zombie-Meerjungfrauen und dem ausbeuterischen Wirken der Menschen. Die Oper vermischt dabei Geräusche aus der Umgebung und dem Fluss Rabiusa.

Magali Dougoud lässt in einer Klangstation vor dem Kraftwerk Zevreila bei Safien ein Klangkunstwerk ertönen «Zombie Mermaids». Sie erzählt die Geschichte eines Fabelwesens, das gegen die herrschenden Verhältnisse aufbegehrt.
Magali Dougoud lässt in einer Klangstation vor dem Kraftwerk Zevreila bei Safien ein Klangkunstwerk ertönen «Zombie Mermaids». Sie erzählt die Geschichte eines Fabelwesens, das gegen die herrschenden Verhältnisse aufbegehrt. Dominik Landwehr

Zu den berühmtesten Stimmen, die dieses Jahr im Tal zu hören sind, gehört jene des brasilianischen Künstlers Ernesto Neto mit seiner Installation und Performance «From Earth to Earth». In einer rituellen Performance hat er eine seiner Skulpturen im Safiental vergraben. Die Arbeit erinnert daran, dass alles, was wir produzieren und konsumieren, aus der Erde kommt und zu ihr zurückkehrt.

In der Schweiz sorgte Neto bereits 2018 für Aufregung: mit seiner 20 Meter hohen Textilskulptur «GaiaMotherTree» im Zürcher Hauptbahnhof.

Ernesto Neto hat in einer rituellen Performance «Earth to Earth» an einem Kraftort neben dem Bergbach eine Skulptur versenkt, die er letztes Jahr geschaffen hat.
Ernesto Neto (hinten, mitte) hat in einer rituellen Performance «Earth to Earth» an einem Kraftort neben dem Bergbach eine Skulptur versenkt, die er letztes Jahr geschaffen hat. Andrea Todisco

”Unsichtbare Care-Arbeit der Frauen wird in Zukunft entscheidend sein”

Eine weitere bekannte Position ist jene des Inders Ravi Agarwal, dessen Werke auch schon an der Documenta in Kassel zu sehen waren.

Zusammen mit der chilenischen Glaziologin Paulina Lopez schuf er eine Dokumentation zum Thema Gletscher, die in einer Kapelle zu sehen ist. Das wissenschaftliche Wissen über Gletscher ist selbst heute, da die Gletscher im Zuge der Klimakrise wegschmelzen, noch immer recht begrenzt.

Ravi Agarwal und Paulina Lopez beschäftigen sich mit dem Verschwinden von Gletschern. In einem Fresko aus dem 15.Jahrhundert in der Kirche von Tenna haben sie einen winzigen Hinweis auf einen Gletscher entdeckt, der längst geschmolzen ist.
Ravi Agarwal und Paulina Lopez beschäftigen sich mit dem Verschwinden von Gletschern. In einem Fresko aus dem 15.Jahrhundert in der Kirche von Tenna haben sie einen winzigen Hinweis auf einen Gletscher entdeckt, der längst geschmolzen ist. Dominik Landwehr

Die Art Safiental 2024 lädt uns ein, Szenarien zu denken und Wege zu finden, um zusammen eine zukunftsfähige und nachhaltige Welt aufzubauen. Die «Spiis-Säckli» von Paloma Ayala, für die die Talbewohnerinnen Stoff gesammelt haben, gehören zum Projekt ”Breastworks”.

Dies ist ein öffentlicher Ofen, den Ayala zusammen mit dem Hotelkoch Sascha Skraban gebaut hat. «Eine Erinnerung an die unsichtbare Care-Arbeit der Frauen, die auch in Zukunft entscheidend sein wird», sagt der Künstlerische Leiter Johannes M. Hedinger.

Auch dies ist ein Wunsch für eine mögliche Zukunft.

Dominik Landwehr (*1958 in Zürich) ist ein Schweizer Journalist, Autor, Medien- und Kulturschaffender. Von 1998 bis 2019 war er Leiter des Fachbereichs Pop & Neue Medien beim Migros-Kulturprozent in Zürich. Er hat zusammen mit Johannes M. Hedinger auch an den Safientaler GesprächenExterner Link mitgewirkt.

Editiert von Benjamin von Wyl

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