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Deutsch-Helvetische Metamorphose

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Ingeborg Lüscher kam 1959 als Schauspielerin in die Schweiz. Die Deutsche fand das Land merkwürdig und fühlte sich unglücklich. 50 Jahre später ist sie immer noch hier und lebt als bildende Künstlerin im Tessin.

Ingeborg Lüscher ist eine international bekannte Künstlerin. Mit Fotografien, aber auch Konzept- und Videoinstallationen sorgt sie immer wieder für Aufsehen. An der Documenta in Kassel war sie präsent, aber auch an diversen Biennalen.

Wie präsentieren Sie sich im Ausland? Als schweizerische oder als deutsche Künstlerin? «Als Schweizerin» , antwortet Löscher ganz selbstverständlich und in reinstem Hochdeutsch, während wir in ihrem Tessiner Haus ein Tasse Tee trinken.

Das war nicht immer so. Lüscher erzählt, wie sie nach ihrer Ankunft 1959 in der Schweiz zuerst die allergrösste Mühe hatte, Fuss zu fassen. Sie hatte den Schweizer Farbpsychologen Max Lüscher geheiratet, war nach Basel gezogen und dank Heirat auch umgehend Schweizerin geworden. «Aber ich war wirklich tief unglücklich»; erinnert sie sich.

Jugend in Deutschland

Geboren wurde Lüscher 1936 in Freiberg (Sachen), aber eigentlich ist sie überwiegend in Berlin aufgewachsen. Ihr Vater war kein Nazi, deshalb musste er öfter den Job wechseln und teilweise von der Familie getrennt leben.

Es war der Vater, der sie zum Schauspielberuf brachte. Seine Erzählungen vom Theater begeisterten die junge Ingeborg so sehr, dass sie unbedingt diesen Beruf ergreifen wollte.

Nach dem Abitur machte sie in Berlin ein Schauspielstudium und arbeitete in den folgenden Jahren als Theater- und Filmschauspielerin. Im zarten Alter von 23 Jahren kam sie dann in die Schweiz.

Vollkommen entwurzelt

Was für ein Schock! «Ich empfand mich als Fremdkörper in diesem Land, auch als Frau», erzählt sie. Die Sprache verstand sie nicht, die Leute kamen ihr kühl und wenig begeisterungsfähig vor. «Ich fühlte mich vollkommen entwurzelt.»

Doch 1967 kam der Umschwung. Bei Dreharbeiten in Prag lernte sie Personen kennen, welche den Aufstand, den Prager Frühling, vorbereiteten. «Es hat mich tief beeindruckt, was Leute riskieren, um eine bessere Zukunft zu erreichen», erinnert sie sich.

Danach war sie bereit, ihrem eigenen Leben eine Wende zu geben und folgte dem Wunsch ihres damaligen Mannes, ins Tessin zu ziehen. Doch ihren neuen Weg musste sie zuerst alleine finden – es kam zur Trennung von ihrem Mann. Gleichzeitig sattelte sie von der Schauspielerei auf die bildende Kunst um.

Ein Dorf als zu Hause

«Als ich Ende der 1960er-Jahre hier nach Tegna zog, fühlte ich mich zum ersten Mal so richtig geborgen», erzählt sie. Obwohl sie als Hippie und Künstlerin eigentlich gar nicht in das traditionelle Dorf passte, habe man sie akzeptiert «wie einen Schmetterling, der zufällig hier gelandet ist».

Die Herzlichkeit und Unvoreingenommenheit, mit der sie in diesem Dorf leben konnte, habe sie überwältigt. Und vielleicht war es so, weil sie gerade nicht dem Bild des reichen Deutschen oder Deutschschweizers entsprach: «Ich war ja arm und eine Künstlerin.»

Heute hat Lüscher auch ihre Vorbehalte gegenüber der Deutschschweiz verloren. «Die Deutsche Schweiz hat sich auch unglaublich geändert, ist viel offener und multikultureller geworden», meint die Künstlerin.

Heimatgefühl

Wie stark Lüscher mit Deutschland und der Schweiz verbunden ist, zeigt sich in einer Episode, die sie erzählt. «Ich litt immer stark darunter, wenn man sich in Deutschland über die Schweiz lustig machte. Aber ich litt auch, wenn man sich in der Schweiz über Deutschland lustig machte.»

Inzwischen sei ihr dies weitgehend egal. Oder sie kann über die Witze auf beide Seiten lachen.

Sie geht gerne nach Deutschland, beruflich und privat. Aber an ein definitives Zurückgehen denkt sie nie. «Ich bin glücklich hier, Tegna ist meine Heimat, und in Deutschland würden mir die Sonne und die Wärme fehlen», sagt sie.

swissinfo, Gerhard Lob, Tegna

Sie wurde 1936 in Freiberg (Sachsen, Deutschland) geboren.

Nach ihrer Heirat mit dem Farbpsychologen Max Lüscher kam sie 1959 in die Schweiz.

1967 Übersiedelung ins Tessin und kurz darauf Trennung von ihrem ersten Ehemann.

1972 begann die Lebensgemeinschaft mit dem Berner Ausstellungsmacher Harald Szeemann.

1975 wurde die gemeinsame Tochter Una Szeemann geboren.

2005 Tod von Harald Szeemann.

Die Entdeckung des Einsiedlers Armand Schulthess macht Lüscher einem grösseren Publikum bekannt. Das Buch erscheint bei Du Mont Schauberg. Fotos und Texte dazu zeigt sie auf der documenta 5 in Kassel im Jahr 1972.

In den frühen 1970er-Jahren konzentriert sich ihre Arbeit auf Ephemeres, Unsichtbares, Zufall, Eros, Träume, Vorhersagen, Liebe, Reinkarnation, Magie. Sie verwendet verschiedene Medien wie Fotografie, Malerei, Installationen und Literatur.

In den letzten Jahren werden die Arbeiten wieder durch Fotografien, vermehrt auch durch Videos bestimmt.

An der Biennale von Venedig von 2002 zeigt Lüscher erstmals ihr Fussball-Video «Fusion». Spieler von Grashoppers Zürich und dem FC St. Gallen spielen gegeneinander, gekleidet in italienische Massanzüge, Business-Hemden, Krawatte und Fussballschuhe – eine Parabel über ähnliches Verhalten von modernen Managern und Fussballern.

Zur Fussball-WM in Deutschland 2006 sponsert die deutsche Kulturstiftung ihr zweites Fussball-Video «The play is everywhere» (Fusion II). Ingeborg Lüscher filmte dafür vor allem in Südafrika.

Das Video «The Game ist over» zum Irak-Krieg wird demnächst auch in Moskau und Peking zu sehen sein. Die Sequenzen zeigen die Schönheit der Erde und die Bedrohung im Schnitt mit George W. Bushs berühmtem Satz zum angeblichen Ende des Irakkrieges.

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