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Die subtile Ironie des Giovanni Orelli

Der Tessiner Schriftsteller Giovanni Orelli, Schillerpreisträger 2012. Keystone

Erstmals seit 12 Jahren erhält wieder ein Tessiner Schriftsteller den Grossen Schillerpreis: Giovanni Orelli wird die höchste Schweizer Literatur-Auszeichnung am 17. Mai für sein Lebenswerk entgegen nehmen – gemeinsam mit Peter Bichsel.

Im Tessin ist Giovanni Orelli “una personalità” – eine echte Persönlichkeit. Und für viele Tessiner verbindet sich mit seinem Namen auch eine schulische Erinnerung. 30 Jahre lang unterrichtete er italienische Literatur am Gymnasium von Lugano.

Die Lehrererfahrung ist für ihn selbst ganz zentral. “Wenn ich ein zweites Leben hätte, würde ich als Beruf genau das machen, was ich in meinem Leben gemacht habe, das heisst Lehrer sein”, sagte er dieser Tage in der Tessiner Tageszeitung La Regione.

Legendär ist seine Belesenheit, die er auch im direkten Gespräch nicht versteckt. Kaum ein Satz, in dem nicht ein grosser Poet oder Literat zitiert wird, mit Vorliebe Dante. Dabei hat er nach eigenen Angaben erst relativ  spät begonnen, sich intensiv mit Literatur zu beschäftigen.

Wurzeln in der Leventina

Dies liegt auch an seiner Herkunft. Die Wurzeln des heute 83-jährigen Orelli liegen im nördlichen Teil des Kantons. Er wuchs im Bedrettotal – einem kleinen und armen Seitental der Leventina – auf. Bibliotheken gab es in den Dörfern nicht. Dank Schule und Lehrerseminar kam der Zugang zur Literatur. Schliesslich studierte er Philologie in Zürich und Mailand. Seit 1958 lebt er in Lugano.

Die Erfahrungen seiner Kindheit flossen in sein Erstlingswerk “L‘anno della valanga” (Das Jahr der Lawine) ein, das den Tessiner 1965 mit einem Schlag bekannt machte und auf Deutsch als “Der lange Winter” bekannt wurde.

“Orellis Erstling ist in seiner einfachen lyrischen Intensität so gelungen, weil er als Abschied von der Jugend konzipiert war, als Distanznahme von der prekären Idylle der Bergbauernwelt”, schrieb die Literaturkritikerin Alice Vollenweider.

Auf die erste Erzählung “L’anno della valanga” folgten verschiedene Romane und Gedichtbände. Auf Deutsch publiziert wurde auch “Monopoly” (1986), in dem in ironischer Art das Spiel um Geld und Macht in der Schweiz thematisiert wird. Feinen Spott und Anspielungen charakterisieren seine Gedichte, die teils in Dialekt verfasst sind.

Lob des Verlegers

Sein Tessiner Verleger Fabio Casagrande aus Bellinzona (Edizioni Casagrande) weist gegenüber swissinfo.ch auf das weniger bekannte Werk des Tessiner Schriftstellers hin. Er erwähnt “als literarische Perle” insbesondere die Erzählung “Una sirena in Parlamento” mit der Geschichte eines Elektrikers, der im Kloster von Claro eine elektrische Installation vornehmen muss.

Für Fabio Casasagrande ist Giovanni Orelli dank seines scharfsinnigen und kritischen Denkens “ein aussergewöhnliches Beispiel für Lebendigkeit und intellektuelle Freiheit”.

Zwar ist es in den letzten Jahren etwas ruhiger geworden um ihn, doch Orelli hat seine Produktion keineswegs eingestellt. So schreibt er  beispielsweise in der Zeitschrift “Echo” des Vereins Alpeninitiative  Beiträge. Auch für die Migros-Zeitung Azione verfasst er regelmässig Literaturbesprechungen.

Kurzer Ausflug in die Kantonspolitik

Politisch war Giovanni Orelli stets der Linken zuzuordnen. Es sass im Gemeindeparlament von Lugano. Und nach seiner Pensionierung 1992 wagte er einen kurzen Ausflug in die Kantonspolitik.

Er kandidierte 1995 auf der Liste des Sozialdemokraten für den Grossen Rat und wurde auf Anhieb in die Legislative gewählt.

Doch der Alltag im politischen Treiben war nichts für den Intellektuellen und Literaten. Orelli stellte sich nach nur einer Legislaturperiode nicht mehr zur Wahl.

Vorlass im Schweizer Literaturarchiv

Erwähnenswert ist auch, dass Giovanni Orelli bereits Anfang der 1990er-Jahre sein eigenes literarisches Archiv dem damals neuen Schweizerischen Literaturarchiv in Bern vermacht hat. Dabei waren auch andere Einrichtungen wie die Kantonsbibliothek in Lugano interessiert.

Begründet hat Orelli seinen Entscheid für Bern als Zeichen, um die Barrieren zwischen den Landesteilen zu überwinden. Er hat dazu einmal in der Neuen Zürcher Zeitung angemerkt: “Mein Entscheid für Bern soll – soweit mein begrenzter Einfluss ausreichen mag – einmal mehr eine Ermutigung zur Überwindung der Barrieren sein, die sprachliche mit eingeschlossen.”

Und weiter: “Sie lässt das ethnisch-herkunftsmässige Element, die Italianità (inklusive der Sprache), nicht ausser Acht, besinnt sich aber auf die politisch-territorialen Gemeinsamkeiten, die wir fast seit fünf Jahrhunderten im Guten wie im Bösen mit den Schweizern teilen.”

Anerkennung für die italienische Schweiz

Die Vergabe des Grossen Schillerpreises an Giovanni Orelli ist auch eine Anerkennung für die italienische Schweiz. Letztmals wurde diese Ehre Grytzko Masconi (1936-2003) im Jahr 2000 teil. Zuvor nur Giorgio Orelli (1988) und Francesco Chiesa (1928).

Gewürdigt wurde Orelli bereits vor Jahren von der Neuen Zürcher Zeitung: “Giovanni Orelli gehört gewiss zu den kühnsten, doch auch zu den heitersten Poeten dieses Landes. Ärmer wäre die italienische Literatur und wären die Literaturen der Schweiz ohne die melancholische Anarchie seiner Gedichte und seiner Prosa.”

“Die Preisverleihung an Peter Bichsel und mich ist eine grosse Freude”, sagt Giovanni Orelli schliesslich selbst gegenüber swissinfo.ch. Und erinnert mit einer gewissen Ironie an sein erstes Zusammentreffen mit Peter Bichsel in Solothurn.

“Damals fragte er mich, ob Francesco Chiesa nicht der rechte Stürmer vom Fussball-Clubs Chiasso sei?” Sport sei eben schon damals wichtiger gewesen als Literatur.

Der Grosse Schillerpreis 2012 geht neben Giovanni Orelli auch an Peter Bichsel. Der 77-jährige Schriftsteller aus Solothurn ist insbesondere für seine Kurzgeschichten und Kolumnen bekannt.

Bichsel bezeichnet sich als “Wenigschreiber”. Er liess seine Leser nach den ersten Erfolgen Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen (1964) und den Kindergeschichten (1969) ganze 15 Jahre auf eine weitere literarische Veröffentlichung warten. 1985 erschien der Erzählband Der Busant.

1970 trat er zusammen mit 21 weiteren bekannten Autoren aus dem Schweizerischen Schriftstellerverband aus und beteiligte sich an der Gründung der  Gruppe Olten.

Der Grosse Schillerpreis der Schweizer Schillerstiftung ist ein Schweizer Literaturpreis.

Er wird seit 1920 in unregelmässigen Abständen vergeben (zuletzt 2000, 2005, 2010). Seit 1988 ist er mit 30‘000 Franken dotiert.

Mit dem Grossen Schillerpreis werden seit Anbeginn das Lebenswerk Schweizer Schriftsteller aus allen vier Landessprachen geehrt, deren Schaffen innerhalb der schweizerischen Literatur herausragt.

Neben dem Grossen Schillerpreis für Orelli und Bichsel vergibt die Stiftung dieses Jahr zwei Schillerpreise in Höhe von je 10’000 Franken: Ausgezeichnet wird der 59-jährige Basler Felix Philipp Ingold für seinen Roman Alias oder Das wahre Leben und der 41-jährige Waadtländer Nicolas Verdan für seinen Roman Le patient du docteur Hirschfeld.

Die mit je 5000 Franken dotierten Schiller Förderpreise schliesslich gehen an den 31-jährigen Tessiner Pietro Montorfani (Di là non ancora) und an den 37-jährigen Zürcher Jens Steiner (Hasenleben).

Die Preisverleihung findet am 17. Mai 2012 zum Auftakt der Solothurner Literaturtage im Landhaus Solothurn statt. Ab 2013 erhält das Bundesamt für Kultur die Federführung für die Preisvergabe.

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