Presseschau vom 10.06.2003
Zwei ausländische Themen beherrschen - nach einem ruhigen Pfingstwochenende in der Schweiz - die hiesige Presse: Das Ja Polens zur EU und das vorläufige Nein Londons zum Euro.
Polen sagte mit 77,5% der Stimmen Ja zu einem EU-Beitritt. Grossbritannien seinerseits wird der Euro-Zone vorerst nicht beitreten.
«Das Resultat ist ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte. Eine grosse, stolze Nation hat sich von einem tragischen Jahrhundert verabschiedet», heisst es im Kommentar der AARGAUER ZEITUNG.
Bei der polnischen EU-Abstimmung vom Wochenende sei es um nichts Geringeres gegangen als um die eigene Identität, schreibt der Zürcher TAGES-ANZEIGER und spricht von einem eigentlichen Kulturkampf.
Laut dem TAGI wird sich Polen, trotz seiner US-freundlichen Irak-Politik, eng an seine europäischen Partner halten: «Das eindeutige Ja wird zu einem Überdenken der bisherigen Aussenpolitik Polens führen, die in den letzten Monaten oft nicht mit den EU-Partnern abgestimmt war. Dem Land steht ein schwieriges Jahr mit innen- und aussenpolitischen Turbulenzen bevor. Doch die Richtung steht nun fest.»
Kalkulierter Entscheid
Das Lob der USA nach dem Irak-Krieg an die Adresse Polens habe in den polnischen Ohren bestimmt verlockend geklungen, so die NEUE LUZERNER ZEITUNG in ihrem Kommentar. Die polnischen Stimmbürger hätten jedoch Realitätssinn bewiesen:
«Sie wussten genau, dass die Lockrufe aus Washington mehr dazu dienten, die ‹alten Europäer› Deutschland und Frankreich zu demütigen, als dass sie der wahren Bedeutung Polens entsprachen.»
Das Ja der Polen sei keine Liebeserklärung an die EU, sondern ein kalkulierter Vernunfts-Entscheid – wie die gesamte Osterweiterung, betont die NLZ weiter:
«Doch die Vernunftsehen sind oft stabiler als Passionsverbindungen, um die unausweichlichen Schwierigkeiten zu überwinden.»
Der Berner BUND vergleicht Polen mit Spanien: «Bevölkerungsreicher als alle andern neun Beitrittsländer zusammen, bringt Polen ein ähnliches Gewicht in die Union ein wie Spanien – und einen ähnlichen Stolz. Es wird zu jenen Kräften zählen, die der Zusammenarbeit zwischen Nationen mehr Gewicht bemessen als der Eingliederung in Institutionen.»
«Noch nicht reif»
Um die EU, genauer um die gemeinsame Währung, ging es auch in Grossbritannien. Die Insel sei noch nicht reif für den Euro, liess die britische Regierung verlauten. Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG spricht von einer «integrationsfreundlichen Rhetorik»:
«Schatzkanzler Gordon Brown betonte zwar die Vorteile der Währungsunion und erklärte einen Beitritt zum offiziellen Ziel. Der zeitliche Fahrplan ist jedoch dehnbar, und eine umfangreiche Reformagenda lässt das Projekt weit in die Ferne rücken.»
Der Entscheid der britischen Regierung, mit dem Beitritt zur Euro-Zone zuzuwarten, folge keiner ökonomischen Logik, da die Insel europäische Investitionen bitter nötig hätte, betont die BERNER ZEITUNG in ihrem Kommentar:
«Hinter dem Entschluss verbirgt sich vielmehr hemdsärmelige Machtpolitik. Angeführt wird die Stimmungsmache, die Tony Blair von seinem früheren Schmusekurs mit dem Kontinent wegbrachte, von Kräften aus Übersee. Sie fürchten die europäische Konkurrenz.»
Politischer Mut gefragt
Die britische Regierung müsse jetzt in Sachen Euro endlich vorwärts machen, rät der BUND: «Wenn die Regierung die Auseinandersetzung scheut und hinauszögert, läuft sie Gefahr, dass Populisten und Europagegner den Diskurs vereinnahmen.»
Auch die welsche Zeitung LE TEMPS hofft, dass Tony Blair endlich den politischen Mut aufbringt, die Euro-Frage voranzutreiben: «Mit seiner sozio-ökonomischen Dynamik, seiner militärischen Macht und demokratischen Stärke könnte Grossbritannien der Motor sein, den das Europa der 25 braucht.»
swissinfo, Gaby Ochsenbein
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