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«Jede Sprachregion der Schweiz will sich ausdrücken»

Plastilinfiguren
"Mein Leben als Zucchini" von Claude Barras (2016) mit animierten Plastilinfiguren ist einer der erfolgreichsten Schweizer Filme. © KEYSTONE / THOMAS DELLEY

Die Schweiz produziert gemessen an ihrer Bevölkerung im Vergleich mit dem europäischen Durchschnitt viele Filme. Mario Cucco, Experte für Filmwirtschaft, erklärt im Interview die Mechanismen hinter dem Schweizer Kino.

Das Filmfestival LocarnoExterner Link ist eine Veranstaltung mit internationalem Charakter, ermöglicht gleichzeitig aber auch, die besten Schweizer Filmproduktionen kennenzulernen.

Neben den Filmen, die im Wettbewerb gezeigt werden, präsentiert das Programm eine Reihe von neuen Produktionen aus der Schweiz, besonders in der Sektion «Panorama Suisse»Externer Link.

swissinfo.ch: Was sind die Hauptmerkmale des Schweizer Kinomarkts?

Marco CuccoExterner Link: Zuallererst muss man festhalten, dass es nicht den einen Markt gibt, sondern drei verschiedene. In den deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Regionen ist das Konsumverhalten unterschiedlich und ähnelt mehr Deutschland, Frankreich und Italien.

Die Schweiz gehört zu den produktivsten Ländern in Europa, weil sie über ein sehr solides öffentliches Finanzierungswesen verfügt.

Zudem finden wir in jeder Region spezifische Titel: Nicht alle Filme werden im ganzen Land gezeigt. Man muss auch erwähnen, dass diese drei Märkte klein sind und keine grossen Investitionen ermöglichen.

swissinfo.ch: Warum ist die Schweizer Filmproduktion derart produktiv?

M.C.: Die Schweiz gehört zu den produktivsten Ländern in Europa, weil sie über ein sehr solides öffentliches Finanzierungswesen verfügt. 2017 wurden 90 abendfüllende Filme produziert.

Man muss aber sagen, dass etwa zwei Drittel davon Dokumentarfilme waren, die natürlich viel weniger kosten. Vieles wird auch deshalb produziert, weil jede Sprachregion das Bedürfnis verspürt, sich auszudrücken oder zu repräsentieren.

swissinfo.ch: Was sind die wichtigsten Mechanismen bei der Finanzierung von Schweizer Filmen?

M.C.: Es gibt drei wichtige Pfeiler: die Eidgenossenschaft, die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft [zu der auch swissinfo.ch gehört, A.d.R.] und eine Reihe von Finanzierungs-Institutionen, die regional arbeiten. Sie investieren jährlich je 20 bis 24 Millionen Franken in Filmproduktionen.

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Die Finanzierung wird aufgrund von kulturellen und qualitativen Kriterien bewilligt. Da unterscheidet sich die Schweiz von anderen europäischen Ländern, in denen Finanzierungsmechanismen eingeführt wurden, die wirtschaftliche Kriterien berücksichtigen.

swissinfo.ch: Warum hat der Schweizer Film Mühe – mit einigen wenigen Ausnahmen –, sich national und international durchzusetzen?

M.C.: Ich fange mit dem internationalen Kontext an: Die Schwierigkeit, einen Film zu exportieren, ist ein Problem, das alle europäischen Produktionen betrifft. Die Schweiz exportiert vor allem in jene Länder, mit denen es sprachliche und kulturelle Verwandtschaften hat. Die Schweizer Filme mit den grössten internationalen Erfolgen – «Mein Leben als Zucchini», «Heidi», «Sils Maria»… – sind alle Koproduktionen.

Woran es in Inland lahmt, ist schwierig zu sagen. Sicher gilt es, die starke Konkurrenz durch Produktionen aus den drei grossen Nachbarländern zu berücksichtigen.

swissinfo.ch: Was hat sich verändert, seit die Schweiz aus dem MEDIA-Programm der Europäischen Union (EU) ausgeschlossen wurde?

M.C.: MEDIAExterner Link ist ein europäisches Unterstützungsprogramm für die audiovisuelle Industrie, das 1991 geschaffen wurde. Die Schweiz trat in den Jahren darauf mit der Unterzeichnung der bilateralen Abkommen bei und wurde nach der Abstimmung über die «Masseneinwanderungs-Initiative» 2014 ausgeschlossen.

Die Eidgenossenschaft musste daraufhin einen nationalen Unterstützungsfonds ins Leben rufen. Jene Gelder, die bisher ins europäische Programm geflossen sind, werden nun für diesen Fonds eingesetzt.

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Diese neue Finanzierungsart scheint offensichtlich den Schweizer Produzenten das Leben zu vereinfachen, hat aber auch negative Konsequenzen. Mit dem Ausschluss aus dem MEDIA-Programm gehen Gelder für den internationalen Vertrieb des Films verloren. Man hat keinen privilegierten Zugang mehr zu den wichtigsten europäischen Filmfestivals. Und es bedeutet darüber hinaus, dass der Anreiz wegfällt, auf supranationaler Ebene zu konkurrieren, ein Wettbewerb, der sich positiv auf die Qualität der Filmproduktion auswirkt.

swissinfo.ch: Warum sind Koproduktionen derart wichtig für den Schweizer Film?

M.C.: Ich denke, Koproduktionen sind fundamental, und die Industrie und die Eidgenossenschaft sind sich dessen voll bewusst. Die Schweiz hat sechs bilaterale Abkommen mit anderen Ländern abgeschlossen und macht auch beim europäischen Förderfonds EURIMAGESExterner Link mit, der internationale Koproduktionen unterstützt.

Koproduktionen ermöglichen, teure Filme zu realisieren, sind ein Anreiz, Filme mit transnationalem Geist zu schaffen, vereinfachen den internationalen Vertrieb des Films und bieten die Gelegenheit, neue künstlerische und produktive Fähigkeiten zu entwickeln. Die Schweiz macht hauptsächlich Koproduktionen mit Deutschland, Italien, Frankreich und Belgien.

swissinfo.ch: Wie wichtig sind Schweizer Filmfestivals?

M.C.: Die Filmfestivals erwirtschaften für die Regionen, in denen sie stattfinden, eine wichtige wirtschaftliche Rendite. Sie spielen eine zentrale Rolle im Umfeld der Filmwirtschaft: An den Festivals werden die Rechte der gezeigten Filme verkauft, die Verleiher sind vor Ort, und ausserdem können professionelle Netzwerke und Kontakte geknüpft werden, die für das Geschäft nützlich sind.

Locarno ist ein Festival der Kategorie A, das heisst, mit dem höchsten künstlerischen und kulturellen Wert. Aber es ist auch eine echte Messe der Kinoproduktion.

Marco CuccoExterner Link

Der Italiener stammt aus Urbino in der Region Marken und ist Dozent des Studiengangs Filmwirtschaft an der Universität der italienischen Schweiz (USI), wo er den Masterstudiengang Medienmanagement leitet.

Cucco hat zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Arbeiten über die Filmwirtschaft, über öffentliche Fördermassnahmen für den Film und über die produktiven Aspekte im Zusammenhang mit der Schaffung eines Filmprodukts publiziert und kuratiert.

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Zum Thema:
SRF Tagesschau vom 2.8.2018: Frauenförderung in der Filmszene
Das Schweizer Filmschaffen ist weitestgehend auf staatliche Filmförderung angewiesen. Dabei ist jedoch nur jeder vierte Schweizer Film von einer Frau, ergo gibt es auch weniger Erfolgsregisseurinnen. Das soll sich ändern.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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