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Wenn Bilder Grenzen überschreiten

Paul Nougé, Geschnittene Wimpern, aus der Serie: Subversion des images, 1929-1930 Les Archives & Musée de la Littérature, Bruxelles © 2010, ProLitteris, Zürich

Das Fotomuseum Winterthur zeigt eine monumentale Schau zum Thema Surrealismus, Fotografie und Film: Die "Subversion der Bilder". Ins Auge springt, wie die surrealistischen Bilder von damals der Bilderflut der Gegenwart gleichen.

Es scheint, die surreale Fotografie scheue das grelle Licht. So lässt sich erklären, warum sich die Betrachter der rund 400 Bilder, Dokumentationen und Filme im gedimmten Licht des Winterthurer Fotomuseums wie an einem Band durch neun thematische Bereiche ziehen lassen kann.

Viele Werke der berühmtesten Fotografen wie Man Ray, Claude Cahun, André Breton, Atonin Artaud, Paul Eluard und George Hugnet kommen in der Ausstellung zusammen. Die Schau ist in der Schweiz exklusiv in Winterthur zu sehen.

Mit Bildern die Welt verändern

Der Surrealismus und die von dieser Bewegung geschaffenen Bilder sind in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg entstanden.

Die Foto-Künstler, die sich der surrealistischen Formsprache bedienten, hatten den Anspruch, die Welt und ihre Sicht auf sie wirkungsvoll zu verändern; anders als heute, wo unter dem Begriff Surrealismus alles zusammenfliesst, was magisch, traumhaft, verspielt und fototechnisch manipuliert ist.

Der Gang durch die Ausstellung in Winterthur zeigt auf eindrückliche Weise, wie die Surrealisten versuchten, mit technisch neuartigen und ungewohnten Mitteln wie der Solarisation (Überblendung), der Brûlage (verbrannte Foto-Elemente), der Montage und der Deformation, die Gegebenheiten der Wirklichkeit kreativ zu verwandeln.

Ziel: Neue Sehgewohnheiten schaffen

Die Mittel der Surrealisten, um die Sehgewohnheiten zu verändern, waren einmal minimalistisch, dann wieder brachial.

Von Paul Nougé sind die Cils coupés (geschnittene Wimpern) zu sehen; eine Frau schneidet sich mit einer überdimensionierten Schere ihre Wimpern. Brassaï fotografierte zerbrochene Fensterscheiben eines Ateliers, dessen Schattenlöcher bizarre Figuren an die Fassade zaubern.

Was heute harmlos erscheint, war damals surreal. Max Ernst komponierte 1931 aus Bildausschnitten eine fotografische Version seines Gemäldes “au rendez-vous des amies”; André Breton kombinierte 1937 in einer Fotomontage die Gesichter von Charles Baudelaire, Alfred Jarry und Stephane Mallarmé.

Mit Bildern die Welt auf den Kopf stellen

Die Surrealisten stürzten nicht nur die Bilder ihrer Zeitepoche um, wie die Ausstellung in Winterthur zeigt; sie glaubten, ihre manipulierten Bilder hätten die Kraft, das Gesicht der Welt auf den Kopf zu stellen. “Durch die Kraft der Bilder”, schrieb André Breton, “können sich im Laufe der Zeit die wahren Revolutionen vollziehen.”

Die Ausstellung in Winterthur zeigt, wie die Surrealisten mit unterschiedlichen Techniken und Formen die Bilderwelt umkrempelten; sie nahmen die modernen Bild- und Schnitttechniken von heute vorweg.

Gleichzeitig zeigen die Bilder und Filme, wie anstrengend der Weg ist, durch neue Sichtweisen das Leben zu verändern.

Die surrealen Bilder im Fotomuseum zeigen: Was die Menschen zwischen den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts
als beunruhigende Ikonen der “Fremdheit des Alltäglichen” wahrnahmen, ist heute in der Werbung, in der Modebranche, im Magazin-Journalismus und im experimentellen Film als Zitat und Stilmittel überall vertreten und parodiert.

Damals Surrealismus – heute Fotoshop

Fotoshop und die digitalen Techniken der Bildmanipulation haben die Werkzeuge der Surrealisten zum Stil- und Produktionsmittel für schnelles Geld gemacht.

“Das Auge des Surrealisten hält Ausschau nach der zufälligen Begegnung, dem Wunderbaren im Alltäglichen”, schrieb Louis Aragon. “Der Surrealist hält Ausschau nach Gegenständen, die einen Widerhall in der aktuellen Gefühlslage finden.” Heute ist davon nur die Schaulust übrig geblieben, die scheinbar mit keiner Bilderflut gesättigt werden kann.

An die Stelle der kreativen Einfälle der Surrealisten ist heute Berechenbarkeit und Konstruierbarkeit der Bilder getreten. Ihre Bedeutungen prallen beliebig und je nach Situation aufeinander.

Intensiv wandten sich die Surrealisten der Abbildbarkeit der Sexualität zu. Sie suchten neue Formen, inszenierten Begehren und Obsessionen mit fotografischen Mitteln.

Extreme Formen der Erotik

Man Ray, Bellmer, Boiffard und Mariens fotografierten gefesselte, verschleierte, maskierte und bemalte Körper. Die Surrealisten erkundeten in der Tradition De Sades die dunkelsten Seiten der Lust und die extremen Formen der Erotik.

Diesen Strang hat das Fotomuseum Winterthur in die Ausstellung aufgenommen und den Besuchern eine sympathische visuelle Falle gestellt. Hinter schwarzen Vorhängen rattern in surrealistischen Filmen verwegene Bilder des Begehrens über die Leinwand, die zeitgenössische Sittenwächter als Pornografie katalogisieren würden.

Am Eingang vor dem schwarzen Vorhang warnen die Ausstellungsmacher: “Die Bilder können ihr moralisches Empfinden beeinträchtigen”. Trieb, Theorie und die Lust zum Schauen sind bis heute grenzüberschreitend geblieben.

Erwin Dettling, Winterthur, swissinfo.ch

Die Überblicksausstellung zum Thema Subversion und Surrealismus wurde vom Centre Pompidou in Paris organisiert und wird in Zusammenarbeit mit der Fundancion Mapfre, Madrid, und dem Fotomuseum Winterthur gezeigt.

Die surrealistische Formsprache hat über Mode, Werbung und Medien den Weg in unseren Alltag gefunden.

Die Surrealisten, die ihre Werke zwischen den beiden Weltkriegen schufen, glaubten an die Weltveränderung und an die Selbsterkenntnis durch das Bild.

Sie thematisierten gesellschaftspolitische Fragen, dekonstruierten mit künstlerischen Strategien eingespielte Sicht- und Denkweisen.

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