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Zürcher Orchester spielt Musik eines Komponisten, der den Iran nicht verlassen darf

Mehdi Rajabian (Gesicht am Telefon) begleitet eine Probe des Zürcher Ensembles von seinem Zuhause in Teheran aus.
Mehdi Rajabian (Gesicht am Telefon) begleitet eine Probe des Zürcher Ensembles von seinem Zuhause in Teheran aus. Sören Funk

Für Mehdi Rajabian, einen iranischen Komponisten, der sein Land nicht verlassen darf, stellt die Uraufführung in Zürich eine Prüfung seiner Kunst dar: Kann die Musik, die er unter Einschränkungen geschrieben hat, in der Schweiz frei erklingen?

Bei der Uraufführung neuer Musik des iranischen Komponisten Mehdi Rajabian am 17. September in Zürich wird seine Anwesenheit auf die Partituren beschränkt sein. Sie zeugen von einem sorgfältigen Prozess – 200 bis 300 Seiten allein für dieses Programm –, geformt durch einen Austausch über Zeitzonen und eine lange Distanz hinweg.

Rajabian wird bei dem Konzert nicht anwesend sein, da ihm aufgrund eines staatlich verhängten Reiseverbots weiterhin die Ausreise aus dem Iran untersagt ist. Zuvor war er bereits wegen «Beleidigung islamischer Heiligtümer» und «Propaganda gegen den Staat» im Zusammenhang mit seiner Arbeit für das Underground-Label Barg Music verurteilt worden. Im Jahr 2020 wurde er laut Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen inhaftiert, weil er mit Künstlerinnen zusammengearbeitet hatte.

Dennoch wird das Werk so aufgeführt werden, wie er es komponiert hat. «Alles ist absolut professionell», erklärt er Swissinfo per E-Mail. «Für mich ist der wichtigste Punkt, dass Musik nicht zensiert werden kann und ein Publikum erreichen kann, das Tausende von Kilometern entfernt in einer anderen Welt lebt.»

«Murmur of the Naked Gun» ist einer der Titel aus Rajabians Album Coup of Gods aus dem Jahr 2021.

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Das KonzertExterner Link, veranstaltet von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) in der Neumünsterkirche in Zürich, entstand aus einer zufälligen Begegnung. Der Schweizer Pianist und Komponist Martin Villiger stellte Rajabian André Bellmont vor, einem Schweizer Dirigenten und Komponisten an der ZHdK. Aus ihrer Freundschaft entstand ein Plan.

Was als Vorschlag für einen kleinen Auftritt begann, entwickelte sich zu einem ganzen Abend, der Rajabians Musik gewidmet ist, ergänzt durch Stücke, die deren Themen aufgriffen. Von da an wurde die Logistik zu einer Vertrauensübung: Partituren und Noten wurden aus Teheran verschickt, Probenmitschnitte und Fragen kamen zurück. «Ohne André wäre diese Aufführung definitiv unmöglich gewesen», sagt Rajabian und lobt Bellmonts Organisation und die Fürsorge des ZHdK-Teams. 

Mehdi Rajabian
Der 1989 geborene iranische Komponist wurde 2013, 2015 und 2020 inhaftiert. Seitdem darf er den Iran nicht mehr verlassen. Mehdi Rajabian

Ruhm trotz Verbot

Rajabians Werdegang verdeutlicht, was auf dem Spiel steht. Er wurde 1989 in Sari in der Nähe des Kaspischen Meeres geboren. Seine Werke sind oft ein Dialog zwischen persischen Modi – einem System von Tonarten der persischen klassischen Musik – und Poesie, im Zusammenspiel mit Ensembles aus dem Westen.

In den vergangenen zehn Jahren wurde er mehrmals im Iran verhaftet und mit einem Reiseverbot belegt, dennoch komponierte er weiter und beteiligte sich an internationalen Kooperationen. Er ist bekannt für seine gross angelegten Partituren – Hunderte von Seiten für Orchesterarrangements – und für seine Zusammenarbeit mit international renommierten Künstlerinnen und Künstlern, darunter auch solche, die zuvor kaum Kontakt mit iranischer Musik hatten.

Seine Aufnahmen sind auf den grossen Streaming-Plattformen verfügbar. Kürzlich schuf er Teaser-Musik für Mercedes-Benz, die auf den offiziellen Kanälen der Marke veröffentlicht und mit zwei Telly Awards ausgezeichnet wurde, einem internationalen Preis für Fernseh- und Videowerke.

Im Kontext des Konzerts in Zürich liegt ihm nicht nur am Herzen, dass es überhaupt stattfindet, sondern dass die Berichte über das Ereignis seine Identität nicht auf eine einzige Schlagzeile reduzieren. «Es ist mir immer wichtig, dass Gefängnis und Verbote meine Kunst nicht überlagern», schreibt er. «Ich habe mit Musikern auf der ganzen Welt zusammengearbeitet, von denen ich sagen kann, dass sie vor mir noch nie etwas von iranischer Musik gehört hatten, und alle haben mehrfach Grammy Awards gewonnen, mit grossen Orchestern, für die ich mehr als 400 Seiten Partituren geschrieben habe.»

Es ist ein deutlicher Hinweis: Die Zwänge, mit denen er lebt, sind real, und doch ist seine Arbeit durchdacht, fachkundig und anspruchsvoll. Zürich, so schlägt er vor, sollte zunächst als musikalisches Ereignis verstanden werden – eines, das Seite für Seite, Teil für Teil aufgebaut wird.

Der Schweizer Dirigent André Bellmont (links) bei den Proben zum Konzert «Verbotene Musik» in Zürich.
Der Schweizer Dirigent André Bellmont (links) bei den Proben zum Konzert «Verbotene Musik» in Zürich. Soeren-Funk

Weniger «Fusion», mehr Dialog

Der Titel des Programms deutet diesen Balanceakt an. Forbidden Music verweist auf den Druck, der Rajabians Karriere begleitet hat, doch der Abend selbst ist durch künstlerisches Können geprägt: Neue Arrangements, mit Schweizer Kolleginnen und Kollegen erarbeitet, unter Bellmonts Leitung einstudiert und der Akustik einer klangvollen Kirche angepasst.

«Für mich ist die Kombination von östlicher und westlicher Musik sowohl musikalisch als auch kulturell faszinierend», sagt er. «Kunst lebt von kulturellen Unterschieden.» Das Versprechen liegt weniger in dem Slogan der Fusion als im Dialog: Persische Modi und Texturen treten in den Dialog mit einem europäischen Ensemble, alles unter den Augen eines Komponisten, der sich nicht um Grenzen schert.

Es gab keinen grossen Plan, sagt Rajabian. Nachdem die Entscheidung gefallen war, übernahm die Schweizer Seite die Organisation – Veranstaltungsorte, Musiker, Zeitpläne –, während er sich auf das Material konzentrierte. «All diese gegenseitige Unterstützung wird für das Publikum im Konzert deutlich werden.» Er beschreibt ein Netz von Verbindungen in der ganzen Schweiz, von der ZHdK bis zu Künstlerinnen und Künstlern aus Genfs internationaler Gemeinschaft.

Hören Sie Rajabians «An Epitaph on the Tomb of Companions» aus seinem Album Coup of Gods (2021).

Externer Inhalt

Trompete für Gerechtigkeit

Rajabian widersetzt sich jeder Einordnung, die seine Musik von den Beweggründen trennt, die ihn ursprünglich zum Komponieren gebracht haben. Er betont immer wieder, der Antrieb für seine Arbeit sei, die Wahrheit zu erzählen. «Ich bin ein Komponist, der nicht nur Musik produziert hat, sondern dessen ganzes Bestreben darin bestand, die Wahrheit und die Menschenrechte durch die Sprache der Kunst zu verbreiten», schreibt er.

Jene Erfahrungen, die sein Erwachsenenleben geprägt haben – Verhaftungen, Verbote, lange Phasen der Ungewissheit – werden in Zürich nicht ausgeblendet, sondern tauchen als Haltung gegenüber dem, was Musik sein kann, wieder auf. «Eine der Folgen von Gefängnisaufenthalten ist, dass man die Ereignisse um sich herum nicht einfach ignorieren und gleichgültig bleiben kann», sagt er. «Die Instrumente in deinen Händen posaunen für Gerechtigkeit und Wahrheit. Was auch immer man ‘künstlerische Unterhaltung’ nennen mag, ist für mich ein Witz.»

Gleichzeitig hütet er sich davor, zu viel zu erklären. In einer eindrucksvollen Passage unseres Interviews stellt Rajabian die Frage, ob Worte noch immer das Gewicht haben, das wir ihnen beimessen. «Ich glaube, dass Worte nicht mehr die Kraft besitzen, Emotionen zu vermitteln, wie sie es früher taten, und dass die Menschheit mit eigenen Augen alles gesehen hat, was sie nicht sehen sollte», schreibt er. 

 «Ich sage lieber nicht viel und schaue, wie das Publikum auf meine Musik reagiert. Wir haben im Laufe der Jahre alles gesagt, was wir sagen wollten. Das Publikum soll frei entscheiden, was es aus meiner Musik mitnehmen möchte.» Es ist eine Erinnerung daran, dass für ihn die Bedeutung im Klang liegt – in der Wahl des Tempos und der Klangfarbe, darin, wie eine Melodie im Live-Raum erblüht.

Zürich ist kein Umweg in Rajabians musikalischem Leben, sondern eine Erweiterung, und die Schweizer Bühne erhält eine Bedeutung abseits jeder Symbolik: Rajabian konnte noch nie ein Konzert im Iran geben und darf seit Jahren nicht mehr reisen.

«Das Publikum an diesem Abend wird Stücke hören, die die Zensur umgangen haben und in der freien Welt aufgeführt werden. Alle, die mich zensiert haben, werden verstehen, dass keine Musik verboten werden kann», sagt er. «Eines Tages wird sie die Beschränkungen überwinden und die Ohren der ganzen Welt erreichen.»

Mit Hoffnung weitermachen

Rajabian wird die Premiere aus der Ferne erleben. «Vielleicht kann ich das Konzert online verfolgen, falls die Internetverbindung im Iran gut ist – in letzter Zeit ist sie sehr langsam geworden», sagt er. Sollte eine Live-Verbindung schwierig sein, will er sich anhand von Probenclips, Nachrichten und Aufnahmen ein Bild von dem Abend machen: um zu hören, wie die neuen Arrangements angekommen sind und was die Musiker und das Publikum im Saal empfunden haben.

Die Zukunft liegt bereits auf seinem Schreibtisch. Rajabian sagt, er versuche, ein neues Album fertigzustellen, sein erstes seit 2022. Unter den aktuellen Bedingungen kommt er nur langsam voran, aber er macht weiter. Abgesehen von der Teaser-Musik für Mercedes-Benz ist sein Werk leicht zu finden. «Alle meine Titel sind auf Musikplattformen verfügbar», sagt er, darunter auch Stücke, die mit den im Konzert zu hörenden Werken in Verbindung stehen.

Gäbe es ein einziges Wort, das er den Schweizer Zuhörern nach der Premiere mit auf den Weg geben könnte, dann wäre es «Hoffnung». Keine naive Hoffnung, sondern eine dauerhafte – von der Art, an der man sich an schlechten Tagen festhalten kann. «Es gibt keine andere Wahl, als auszuharren», schrieb er Anfang dieses Jahres. «Hoffnung ist derzeit mein einziges Kapital.» 

Editiert von Virginie Mangin & Eduardo Simantob/ts; Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von DeepL: Petra Krimphove

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