Rechtskonservative gewinnen in der Schweiz an Boden
Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei legt in der Gunst der Wahlberechtigten zu. Das dritte SRG-Wahlbarometer zeigt, dass die Schweiz nach den Parlamentswahlen im Oktober einen Rechtsrutsch erleben könnte, wenn auch weniger ausgeprägt als in den Nachbarländern.
Die stärkste Partei der Schweiz scheint wieder auf Erfolgskurs zu sein: Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) könnte im Vergleich zu den letzten nationalen Wahlen 1,5 Prozentpunkte hinzugewinnen.
Mit 27,1% der Stimmen würde sie ihr drittbestes Ergebnis in ihrer Geschichte erzielen und einen Teil der Verluste von 2019 (-3,8 Prozentpunkte) wettmachen.
Das zeigt das dritte Wahlbarometer der SRG SSR des Instituts Sotomo im Hinblick auf die Parlamentswahlen im Oktober.
Die Grünen hingegen würden im Vergleich zur letzten Parlamentswahl drei Prozentpunkte verlieren und auf einen Stimmenanteil von 10,2% kommen. «Die Grünen verlieren rund die Hälfte ihrer Gewinne von 2019», sagt Sotomo-Politologin Sarah Bütikofer.
Diesen Rückgang können die Grünliberalen, die 0,5% der Stimmen hinzugewinnen, nicht ausgleichen. Ein Teil der linken Basis, die vor vier Jahren für die Grünen gestimmt hatte, scheint zur Sozialdemokratischen Partei (SP) zurückzukehren. Diese könnte gemäss Umfrage um einen Prozentpunkt zulegen.
Auch wenn die Anteile der anderen Parteien stabil bleiben sollten, könnte es am 22. Oktober trotzdem zu einer historischen Verschiebung der politischen Kräfte kommen: Die rechtsbürgerliche Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) und die Zentrumspartei Die Mitte liegen laut der Umfrage fast gleichauf.
Damit könnte Die Mitte zum ersten Mal in der Geschichte die radikal-liberale Gründerbewegung des modernen Schweizer Staats überholen. Damit würde sie die FDP als drittstärkste politische Kraft ablösen.
«Möglich wird dieses Kopf-an-Kopf-Rennen durch die erfolgreiche Fusion zwischen der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) und der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP), die im Jahr 2021 zur Gründung der Partei Die Mitte geführt hat», sagt Sotomo-Chef Michael Hermann.
Eine solche Änderung würde die Diskussion über die Zusammensetzung der Landesregierung neu entfachen. Gemäss dem Konkordanzprinzip müssten die drei stärksten Parteien des Landes je zwei Sitze in der Regierung besetzen, während der siebte Sitz an die viertstärkste Partei gehen müsste.
Würde Die Mitte die FDP überholen, könnte sie also einen zusätzlichen Regierungssitz beanspruchen. «In jedem Fall wird es für die Grünen schwierig, weiterhin einen Sitz im Bundesrat zu fordern», sagt Bütikofer.
+ Die grüne Welle in der Schweiz ebbt ab
Das dritte Wahlbarometer im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober 2023 wurde vom Forschungsinstitut Sotomo durchgeführt, im Auftrag der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR), zu der auch swissinfo.ch gehört.
Die Daten wurden zwischen dem 8. und 22. Juni erhoben. 25’216 Wahlberechtigte aus dem In- und Ausland haben an der Umfrage teilgenommen, einerseits auf den Internetportalen der SRG, andererseits auf der Website von Sotomo. Die Fehlertoleranz beträgt +/- 1,2 Prozentpunkte.
Da sich die Teilnehmenden selbst rekrutierten (Opt-in), ist die Zusammensetzung der Stichprobe nicht repräsentativ für die Bevölkerung.
Beispielsweise nehmen in der Regel mehr Männer als Frauen an politischen Umfragen teil. Verzerrungen in der Stichprobe wurden durch statistische Gewichtungsverfahren korrigiert.
Eine «Korrekturwahl»
Nach den aktuellen Wahlabsichten verliert die Linke zwei Prozentpunkte. Die Rechtsparteien gewinnen hingegen nur einen Prozentpunkt hinzu, was auf die Schwächung der FDP und der Mitteparteien zurückzuführen ist.
Trotz des Zugewinns der Rechtskonservativen dürfte die Schweiz also nicht so stark nach rechts rücken wie 2015. «Es handelt sich eher um eine Korrekturwahl angesichts des grünen und progressiven Vorstosses von 2019», sagt Hermann.
Der Trend zur Polarisierung der Meinungen scheint sich in der Schweiz nicht zu verstärken, heisst es im Sotomo-Bericht. In dieser Hinsicht steht die Entwicklung der politischen Kräfte in der Schweiz im Gegensatz zu den Nachbarländern: In Italien, Deutschland oder Frankreich zeigen die aktuellen Umfragen ein Erstarken der Rechten.
Dieser Unterschied könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Schweiz von den aktuellen Krisen, besonders von der Inflation, weniger betroffen ist als ihre europäischen Nachbarländer, so die Autorinnen und Autoren des Wahlbarometers.
Das Klima ist die grösste Sorge
Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger betrachten den Klimawandel nach wie vor als wichtigste politische Herausforderung für die Schweiz. Das deutliche Ja zum Klimagesetz bei der eidgenössischen Abstimmung vom 18. Juni bestätigt die Bedeutung des Themas.
«Allerdings scheinen die Grünen nach dem Hitzesommer 2018 weniger davon zu profitieren als 2019. Das Thema bleibt zentral, aber es scheint nicht mehr so stark zu mobilisieren», so der Bericht.
Trotz der Annahme des Gesetzes profitierte die SVP von ihrer intensiven Kampagne gegen das Klimagesetz. «Das hat der Partei geholfen, in den eigenen Reihen sichtbarer zu werden», so Bütikofer.
Als zweitwichtigste Herausforderung für das Land sehen die Schweizerinnen und Schweizer die steigenden Krankenkassenprämien und als drittwichtigste die Zuwanderung.
Bei den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern ist die Reihenfolge etwas anders: Für sie stehen an zweiter Stelle die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Eidgenossenschaft, noch vor den Gesundheitskosten. Dies ist insofern naheliegend, als die meisten von ihnen in der EU leben und in der Schweiz nicht krankenversichert sind.
Credit-Suisse-Absturz und «Wokeism» nerven
Auch bei den grössten Ärgernissen unterscheiden sich die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer von ihren Landsleuten in der Schweiz, wie die folgende Grafik zeigt.
Besonders die «Schwächung der Neutralität» und der «Asylmissbrauch» werden von der Auslandgemeinde viel häufiger als Ärgernis genannt.
Die drei Themen, über die sich die meisten Schweizerinnen und Schweizer im In- und Ausland aufregen, sind jedoch die gleichen: das Missmanagement bei der untergegangenen Grossbank Credit Suisse und die exorbitanten Boni für ihre Führungsriege, die Menschen, die für den Klimaprotest ihre Hände auf den Asphalt kleben, und die Debatten über Gender oder «Wokeism».
Die Politologinnen und Politologen des Instituts Sotomo gehen davon aus, dass die Emotionalisierung der beiden letzten Themen der SVP in die Hände spielen könnte.
Die Partei hatte Anfang Jahr dem «Wokeism» den Kampf angesagt und in ihrer Kampagne gegen das Klimagesetz die Strassenblockaden angeprangert.
+ «Die SVP wird mit ihrem Kampf gegen den ‹Wokismus› nicht viele Stimmen gewinnen»
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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