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Die Angst der Schweizer Forschung vor der Isolation

ETH Labor
Forschung am Labor für Astrophysik an der EPFL bei Lausanne. Keystone / Laurent Gillieron

Forscherinnen ziehen weg, Professoren zögern, an Schweizer Unis zu arbeiten, Schweizer Studierende erfahren Nachteile: Die Forschernation Schweiz erlebt schwere Zeiten. Grund ist das ungeklärte Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU.

“Wir sind ein kleines Land, das sich schon immer auf die Anwerbung ausländischer Forscherinnen und Forscher gestützt hat”, sagt Michael Hengartner, Präsident des ETH-Rats. Darum herrsche an allen Schweizer Hochschulen eine internationale Atmosphäre, die sich für die Integration von Personen aus dem Ausland als förderlich erweise.

Michael Hengartner.
Michael Hengartner. Keystone / Peter Klaunzer

Wissen und Bildung gehören zu den wichtigsten Ressourcen der Schweiz. Dies spiegelt sich in einem leistungsstarken Bildungssystem, erstklassiger Infrastruktur und Schweizer Hochschulen, die in internationalen Rankings regelmässig Spitzenplätze belegen. Hengartner spricht von einem veritablen “Ökosystem”, das Spitzenforschung fördert und über ein solides, flexibles und zugleich wettbewerbsfähiges Finanzierungssystem verfügt.

“Natürlich können wir auch sehr gute Arbeitsbedingungen bieten”, ergänzt Martin Vetterli, Präsident der ETH Lausanne (EPFL). So sei die Dichte an renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Schweiz weit überdurchschnittlich, was wiederum weitere junge Talente ins Land lockt, wie Vetterli sagt. Oder müsste man heute eher sagen “lockte”?

Schweiz verliert Zugang zur “Champions League”

Der Abbruch der Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen ist für die Forschung folgenschwer. Die Schweiz wurde von der EU in ihrem Forschungsrahmenprogramm zum “nicht assoziierten Drittland” degradiert. Im weltweit grössten Programm für Forschung und Innovation, Horizon Europe, verliert die Schweiz damit ihre bisherige Stellung und ihren bisherigen Einfluss.

Immerhin ist Horizon Europe das weltweit grösste Programm für Forschung und Innovation mit einem Budget von knapp 100 Milliarden Euro für einen Zeitraum von sieben Jahren (2021–2027). Die finanzielle Ausstattung ist im Vergleich zu den 79 Milliarden Euro des Vorgängerprogramms Horizon 2020, bei dem die Schweiz noch assoziierte Partnerin war, nochmals deutlich gestiegen.

Cern Labor
Forschung am CERN bei Meyrin. © Keystone / Salvatore Di Nolfi

Ganz ausgeschlossen von der Zusammenarbeit mit ihrem wichtigsten Forschungspartner ist die Schweiz zwar nicht. Aber: Schweizer Forschende können keine grossen Kooperationsprojekte mehr leiten und erhalten keine Grants des Europäischen Forschungsrats (ERC) mehr. Hengartner bezeichnet diese Stipendien des ERC als “Champions League der Forschung”.

EPFL-Präsident Martin Vetterli kennt sie aus eigener Erfahrung: “Ich hätte meine Forschung im Bereich der digitalen Signalverarbeitung ohne ein Stipendium des ERC in Höhe von fast zwei Millionen Euro über fünf Jahre nicht so weit vorantreiben können.” 

Yves Flückiger, Präsident der Schweizer Universitäten swissuniversities, ergänzt, dass Schweizer Forschende von mehreren wichtigen Forschungsbereichen völlig ausgeschlossen sind. Flückiger nennt das Flaggschiffprogramm für Quantenforschung, das für die Entwicklung der Digitalisierung von strategischer Bedeutung sei, den Bau des internationalen Kernfusionsreaktors ITER, bei dem die Schweiz seit 2007 an der Projektsteuerung beteiligt war, und das Programm Digital Europe, das auf Hochleistungsrechnen, künstliche Intelligenz und Cybersicherheit fokussiert.

Die Erosion hat bereits begonnen

Die Schweizer Forschung gehörte bisher laut Vetterli zu den aktivsten der assoziierten Länder der EU-Forschung, vor allem in den Bereichen Gesundheit, Umwelt, Klima und Quantentechnologie. Jetzt wird sie seit über einem Jahr ins Abseits gedrängt, trotz der 1,2 Milliarden Franken, die der Bund für Übergangsmassnahmen in der Schweiz zur Verfügung gestellt hat.

Vetterli berichtet von Start-ups, die auf dem Campus der EPFL entstanden sind und nun Büros in Europa eröffnen, um sicherzustellen, dass sie weiterhin Talente anziehen und von europäischen Geldern profitieren können.

Yves Flückiger weiss von ersten Forschenden, die die Schweiz mit ihren ERC-Stipendien Richtung Frankreich, Österreich und Belgien verlassen haben. Und Hengartner stellt fest, dass Kandidierende für Professuren an den beiden ETH nun alle nach den Aussichten der Schweiz auf eine baldige Wieder-Assoziierung fragen.

Die Assoziierung an die Forschungs­rahmenprogramme der EU stellt Forschende aus anderen Ländern mit den EU-Mitgliedstaaten gleich. Gewährt wird sie

1. Mitgliedern der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), die ebenfalls Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) sind;

2. Ländern, die im Aufnahmeprozess der EU stehen, EU-Beitrittskandidaten oder potenziellen Kandidaten sind;

3. Ländern der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP);

4. anderen Drittländern und Gebieten, die eine Reihe von Kriterien in Bezug auf ihre wirtschaftlichen, politischen sowie Forschungs- und Innovationssysteme erfüllen.

Isoliert arbeiten? Das ist in der Welt der Forschung undenkbar. Ebenso in der Welt der Innovation: Als Reaktion auf die Nicht-Assoziierung der Schweiz hat das renommierte Genfer Unternehmen ID Quantique eine Niederlassung in Wien eröffnet, um den Zugang zu Horizon Europe aufrechtzuerhalten. Flückiger sagt, die 100 Arbeitsplätze, die sonst in der Schweiz geschaffen worden wären, befänden sich jetzt in Wien.

Es geht um den Wohlstand der Schweiz

Es geht bei Horizon Europe für die Schweiz nicht nur um ihre Forschung und die Forschenden, die um ihre Spitzenpositionen fürchten. Sondern auch um Studentinnen und Studenten sowie Professorinnen und Professoren, die plötzlich zögern, in die Schweiz zu kommen.

Und es geht bei Horizon Europe auch um Technologietransfer, der zu Gründungen von Start-ups und KMUs und zur Schaffung von Stellen in der Forschung und in Unternehmen führt. Letztlich also, so sind sich die Hochschulvertreter einig, geht es bei Horizon Europe um den Wirtschaftsplatz und den Wohlstand der Schweiz.

Rund ein Jahr nach dem Abbruch der Verhandlungen für einen Rahmenvertrag nimmt die Schweiz einen neuen Anlauf zur Regelung ihrer künftigen Beziehungen mit der EU. Doch der Weg zu einer tragfähigen Lösung zwischen Bern und Brüssel ist noch lang – und auf beiden Seiten von Misstrauen geprägt. Auch innenpolitisch ist kein breit abgestützter Konsens in Sicht.

Yves Flückiger findet, der Bundesrat solle sich jetzt nicht auf neue Forschungspartnerschaften ausserhalb der EU fokussieren: Der Forschungswettbewerb finde zwischen der EU, den USA und China statt. Deshalb bleibe die Nichtassoziierung der Schweiz das eigentliche Problem.

Die EU-Delegation erklärt auf Anfrage, dass Schweizer Forscherinnen und Forscher stets willkommene und geschätzte Partner in den EU-Forschungsprogrammen waren. Sie seien es auch jetzt: “Schweizer Forschende sind zugelassen, an Horizon-Europe-Projekten teilzunehmen unter den Bedingungen, die für nicht assoziierte Drittstaaten gelten. Für eine vollständige Assoziierung, was auch die Berechtigung zum Erhalt von EU-Mitteln einschliesst, verlangt die EU-Verordnung, dass Drittstaaten ein Dachabkommen abschliessen, das die Bedingungen und Modalitäten der Assoziierung regelt. Die weiteren Entwicklungen in dieser Frage sind im Kontext der Gesamtbeziehungen zwischen der EU und der Schweiz zu betrachten.”

Forschung Gletscher
Klimaforschung im Oberengadin. © Keystone / Mayk Wendt

“Eine Lose-lose-Situation”

Die EU setzt also die Schweiz unter Druck, ihre Beziehungen zu ihren europäischen Nachbarn umfassend zu klären. Bis dahin sieht sie keinen Grund, die Schweizer Forschung privilegiert zu behandeln. Daran haben bisher weder die Bemühungen der Schweizer Diplomatie noch ein Appell der Forschenden etwas geändert. ETH-Ratspräsident Michael Hengartner sagt, diese Situation sei nicht nur für Schweizer Forscherinnen und Forscher nachteilig, sondern auch für die europäische Forschung selbst: “Das ist unverkennbar eine Lose-lose-Situation.”

Welche konkreten Ergebnisse haben die europäischen Forschungsrahmenprogramme gebracht, welchen Nutzen zieht die Schweiz aus der Zusammenarbeit? Der Genfer Uni-Rektor und Präsident von swissuniversities, Yves Flückiger, muss bei der Frage nicht lange überlegen.

Cern: Das Forschungslabor ist gleichermassen die Wiege von Europas Forschung: 1954 an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz bei Genf gegründet, war es eines der ersten gemeinsamen europäischen Projekte und hat heute 23 Mitgliedsstaaten. Dieser Wissenschaftsraum wurde 1984 durch die europäischen Forschungsrahmenprogramme gestärkt. Flückiger: «Diese Programme spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Grundlagenforschung und ihrer Umsetzung in industrielle Anwendungen, indem sie insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Laboren und Unternehmen förderten.» Seit 2012 und der Entdeckung des Higgs-Teilchens ist das Cern der ganzen Welt ein Begriff.

BioNtech: Das in jüngster Zeit wohl prominenteste Resultat von Forschungstransfer ist der erste Boten-RNA-Impfstoff gegen Covid-19, direktes Ergebnis einer Forschung, die seit etwa 20 Jahren vom Europäischen Forschungsrat finanziert wird. «Dieser Impfstoff war das Werk des Biotechnologieunternehmens BioNtech, eines europäischen Unternehmens, dessen Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci, beide mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland, vom Europäischen Forschungsrat finanziert wurden», sagt Flückiger.

ID Quantique: Als weiteres Beispiel nennt Flückiger ID Quantique. 2001 in Genf von vier Wissenschaftlern der Universität Genf gegründet, die wichtige Finanzmittel vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF), aber auch von verschiedenen europäischen Programmen erhielten, hat sich ID Quantique vom kleinen Spin-off zum weltweit führenden Anbieter von Lösungen für sichere Quantenkryptografie entwickelt. Zu den Investoren gehören die Telekomriesen SK Telecom (Südkorea) und Deutsche Telekom. ID Quantique hat seinen Hauptsitz in Genf und unterhält enge Beziehungen zu akademischen Einrichtungen über die Teilnahme an mehreren schweizerischen, europäischen und koreanischen F&E-Programmen, um Innovation auf den Markt zu bringen.

Dieser Artikel ist ursprünglich in der Schweizer RevueExterner Link erschienen.

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